Haus des Glücks
es leicht gehabt auf ihrem Weg zur Approbation. Weshalb sollte es mir anders ergehen?
6
Frühjahr 1889
O rdensschwestern in langen blauen Kleidern mit weißen Schürzen und Flügelhauben eilten in lautloser Geschäftigkeit über den Flur. Alles war makellos sauber – der Fußboden, die Bilderrahmen an den Wänden, das kleine Tischchen neben dem Wartestuhl, die gestärkte Decke darauf, das Glas, der Krug. Selbst das Wasser darin wirkte frisch, klar und rein. Kühl. Gotthard Bülau fröstelte. Er fühlte sich nicht wohl dabei, auf diesem Krankenhausflur zu stehen und zu warten, aber er mochte sich auch nicht setzen. Er war viel zu aufgeregt.
Eine junge Frau hatte ihn bei der Leiterin Schwester Innozentia angemeldet, ein hübsches Ding in Victorias Alter, das die Tracht der Novizinnen trug. Das war vor fast einer halben Stunde gewesen. Sie war wieder herausgekommen, hatte ihn um etwas Geduld gebeten, da die
Mutter Oberin
noch beschäftigt sei, war davongeeilt und hatte ihn mit seinen Gedanken und seinem Unbehagen allein zurückgelassen. Das Marienkrankenhaus hatte sich seit seiner Eröffnung vor sieben Jahren einen guten Ruf erworben, daran gab es keinen Zweifel. Trotzdem war es anders als alle Häuser, in denen er bisher gearbeitet hatte. Er sah zu, wie ein Patient im Rollstuhl an ihm vorbeigeschoben wurde. Ein Anblick, der ihm im Laufe seines Berufslebens so vertraut geworden war, dass er gewöhnlich nicht darauf achtete. Doch hier nahm die Szene seinen Blick gefangen, weil die Krankenschwester eine Nonne war. Seine Augen wanderten zu der Marienstatue in der blumengeschmückten Nische am Ende des Ganges. Was reizte eine junge Frau, auf Mann, Kinder und alle Annehmlichkeiten des Lebens zu verzichten und stattdessen in einen Orden einzutreten? Verhungern musste heutzutage niemand mehr, es gab genug Armenhäuser und Stiftungen, die sich um die Bedürftigen kümmerten. Und ein Mindestmaß an Bildung stand jedem zu. Außerdem konnte man auch in der Familie Gott dienen. Er selbst war gläubig. Der sonntägliche Kirchgang und die regelmäßige Lektüre der Bibel waren für ihn mehr als eine Selbstverständlichkeit, sie waren ihm ein Bedürfnis. Dasselbe galt auch für seine Frau Klara. Dennoch fühlte er sich hier als Fremdling, als Eindringling in eine ihm völlig unbekannte Welt. Alles hier war katholisch. Ähnliches Unbehagen hatte er nur verspürt, als er Zeuge geworden war, wie ein Rabbiner mit einem jüdischen Patienten gebetet hatte.
Seine Hand glitt in die Hosentasche zu seiner Uhr. Er betrachtete das Kreuz über der Tür, vor der er nun schon so lange wartete. Es war nicht das erste Mal, dass er hier stand. Etwas über ein Jahr war es her, dass er mit Schwester Innozentia, der Vorsteherin des Ordens, die
Mutter Oberin,
wie sie von den Nonnen und Ärzten genannt wurde, über Victoria gesprochen hatte. Seitdem arbeitete seine Tochter an drei Tagen in der Woche im Marienkrankenhaus. Es schien ihr zu gefallen. Wenn sie abends nach Hause kam, wirkte sie zufrieden, fast glücklich. Weshalb Schwester Innozentia ihn jetzt unbedingt zu sprechen wünschte, war ihm allerdings ein Rätsel.
Endlich öffnete sich die Tür, und die Mutter Oberin trat heraus. Gotthard wusste nicht, wie er die Nonne begrüßen sollte. Einem katholischen Bischof küsste man den Ring, das hatte er gelesen. Aber bei einer Ordensschwester erschien ihm diese Geste unpassend. Und dieses »Gelobt sei Jesus Christus«, das manch einer der Patienten bei der Begegnung mit einer der Schwestern sagte und das diese mit »In Ewigkeit, Amen« erwiderten, kam ihm übertrieben und verlogen vor. Er war schließlich kein Katholik.
Doch ehe er sich für eine Begrüßungsformel entscheiden konnte, kam Schwester Innozentia auf ihn zu und bewahrte ihn vor jeder Verlegenheit. »Guten Tag, Herr Doktor Bülau«, sagte sie, ohne ihm die in den weiten Ärmeln ihrer Kutte verborgenen Hände zu reichen. Die Spitzen ihrer Flügelhaube wippten, als sie ihm zunickte.
»Guten Tag, Schwester Innozentia.«
Schwester Innozentia schien seine Unsicherheit zu bemerken, denn sie hob fast unmerklich eine Augenbraue, und obwohl sie ihm nur bis zur Brust reichte, strahlte sie eine solche Souveränität aus, dass sie ihrem Gegenüber das Gefühl vermittelte, ihr nicht gewachsen zu sein. »Bitte kommen Sie doch herein, Herr Doktor«, sagte sie mit ihrer ruhigen, sanften Stimme und verlor dadurch etwas von ihrer Unnahbarkeit.
Gotthard betrat das karg eingerichtete Arbeitszimmer: ein
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