Haus des Glücks
und dass sie ausreichend abgeführt hatte. Besonders dieses Detail trieb Victoria stets die Schamesröte ins Gesicht.
Wieso musste die Oberschwester darüber reden, noch dazu vor den beiden jungen Medizinalassistenten?
Als Schwester Brigitte fertig war, trat Doktor Baumgarten neben ihr Bett, schob den Nachttisch zur Seite, nahm auf der Bettkante Platz und hob den Zeigefinger. Gehorsam folgte sie dem sich bewegenden Finger, bis er sie bat, den Kopf zu drehen. Schließlich griff er nach ihrem Handgelenk, tastete ihren Puls und legte väterlich seine Hand auf ihre. »Wie fühlen Sie sich heute, Fräulein Bülau?« Seine tiefe Stimme hatte einen so beruhigenden Klang, dass Victoria sich wünschte, Doktor Baumgarten würde ihr aus dem Märchenbuch vorlesen, das sie als Kind so geliebt hatte.
»Besser«, sagte sie. »Viel besser.«
»Was machen die Kopfschmerzen?«
»Die sind nicht mehr so schlimm.«
Doktor Baumgarten warf einen kurzen Blick auf das nur halb gegessene Frühstück und schüttelte besorgt den Kopf.
»Aber Appetit haben Sie immer noch nicht?«
»Doch, schon, aber …«
»Ah, ich verstehe, als wohlerzogene, höfliche junge Dame können Sie sich dazu nicht äußern. Im Vertrauen: Ich mag den Tee auch nicht.« Er tätschelte lächelnd ihre Hand und erhob sich. »Ich komme nachher noch einmal vorbei, um Sie zu untersuchen. Wenn sich mein Eindruck bestätigt, können wir Sie morgen entlassen. Im Bett liegen und schonen können Sie sich auch in der Obhut Ihrer Eltern. Und wenn Sie mehr essen, werden Sie sich auch schneller erholen.« Er beugte sich vor und flüsterte: »Das Essen schmeckt zu Hause viel besser, nicht wahr?«
Sie nickte.
»Gut, Fräulein Bülau!« Er drückte herzlich ihre Hand. »Wir sehen uns nachher.«
Er erhob sich und verließ das kleine Krankenzimmer, die Ärzte und die Oberschwester folgten ihm. Die Tür fiel hinter ihnen ins Schloss, und Victoria war allein.
Sie würde bald wieder zu Hause sein, vielleicht schon morgen!
Doch die anfängliche Freude über diese Nachricht wich langsam einem dumpfen Unbehagen. Überrascht stellte sie fest, dass sie ihren Krankenhausaufenthalt auf seltsame, fast absonderliche Art genoss – die Ruhe, das Nichtstun, sich um nichts kümmern oder sorgen zu müssen, selbst die Langeweile. Zu Hause würde ihre »Krankheit« allmählich der täglichen Routine weichen, und damit würde sie sich all den Fragen stellen müssen, die sie ohnehin schon quälten: Wie sollte sie Franziska gegenübertreten, wenn diese zu Besuch kam? Sollte sie versuchen, Vater und Mutter zu überreden, ihr doch ein Studium in der Schweiz zu finanzieren, und sei es nur, um Fräulein Johannsen zu zeigen, dass es auch ohne sie ging? Aber wie? Hatte es unter diesen Voraussetzungen überhaupt noch Sinn, das Lehrerinnendiplom abzulegen? Sie hatte nie Lehrerin werden wollen. Aber was sollte sie stattdessen mit ihrem Leben anfangen? Auch heiraten? Irgendeinen x-beliebigen Mann, dem Wunsch der Mutter entsprechend einen Arzt, und zusehen müssen, wie er ihren Lebenstraum verwirklichte? Was sollte sie tun? Wenn sie die Augen schloss und vor sich hin träumte, lag ihre Zukunft klar und deutlich vor ihr: Sie sah sich als Ärztin gemeinsam mit ihrem Mann in einer gutgehenden Praxis arbeiten. Verantwortungsvolles Personal kümmerte sich um Küche und Haushalt, so dass ihr nebenher noch genug Zeit für die Kinder blieb, mindestens drei an der Zahl. Aber das waren nichts als Phantasien, nutzlose Tagträume, eine Utopie. In der realen Welt würde sie sich zwischen Beruf und Familie entscheiden müssen. Victoria wusste, dass sie den Fragen nach ihren Zukunftsplänen zu Hause nicht mehr ausweichen konnte. Jemand würde sie stellen – Mutter, Vater, Johanna, vielleicht auch Franziska. Und dann würde sie eine Antwort zur Hand haben müssen.
Ihre Gedanken wanderten zu Schwester Josephine. Nie zuvor war sie einem Menschen begegnet, der seinen kleinen, unscheinbaren Platz im Leben mit solch bewundernswerter Begeisterung, Dankbarkeit und Stolz ausfüllte wie diese junge Frau.
»Es macht mir einfach Freude, zu helfen«,
hatte sie gesagt. Victoria gingen diese Worte nicht mehr aus dem Kopf, und ein Gedanke nahm zunehmend Gestalt an. Sollte sie auch Krankenschwester werden? Als Frau durfte sie zwar den Arztberuf nicht ergreifen, aber Ärzte brauchten Schwestern. Schwestern pflegten die Patienten, beobachteten sie genau und wussten zuweilen besser über ihr Befinden Bescheid als die Ärzte. Ohne eine
Weitere Kostenlose Bücher