Haus des Glücks
Arbeit hätte konzentrieren können.
Es war spät, als Victoria die Kleidung der Schwesternhelferinnen gegen ihre eigene tauschte und sich auf den Heimweg machte. Doktor Kümmell hatte sie noch zur Visite gebeten. Es war jetzt vierzehn Tage her, dass er einem Patienten den entzündeten Wurmfortsatz entfernt und sie ihm auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin bei der Operation die Instrumente gereicht hatte. Dem Mann ging es mittlerweile gut, die Wunde heilte, er konnte aufstehen, essen und abführen. Natürlich musste er noch mindestens eine Woche zur Beobachtung im Krankenhaus bleiben. Doch es schien sich bereits jetzt herauszustellen, dass der Eingriff erfolgreich verlaufen war. Es war die erste geglückte Appendektomie in Deutschland. Doktor Kümmell verfasste einen Beitrag für die Ärztezeitung, und alle Mediziner im Land, in Europa, vielleicht sogar in der ganzen Welt, würden ihn lesen. Auch wenn ihr Name in dem Artikel keine Erwähnung fand, wusste sie, dass sie dabei gewesen war und dem medizinischen Fortschritt das Skalpell gereicht hatte. Auch jetzt, zwei Wochen nach der Operation, konnte sie es kaum fassen.
Sie ging die schmale Seitenstraße entlang. Es hatte den ganzen Tag über geregnet, und der Bürgersteig war nass und voller Schlamm. Mit einer Hand hielt sie ihr Kleid hoch, damit der Saum nicht schmutzig wurde, mit der anderen presste sie die Bücher an sich, die ihr die Mutter Oberin zur Lektüre mitgegeben hatte: »Das Leben der Heiligen Jungfrau Maria« von Brentano und ein Buch über Krankenpflege.
Als sie die Ecke zur Hauptstraße erreicht hatte, sah sie die Frau, die am gegenüberliegenden Blumenstand drei rote Tulpen zu einem kleinen Strauß band und ihn einem jungen Mann reichte.
Victoria freute sich immer, wenn sie die Blumenfrau sah. Morgens und nachmittags kam sie auf ihrem Weg von der Station der Dampfbahn zum Marienkrankenhaus an dem alten Handkarren vorbei, auf dem in Eimern und Blechkannen üppige Rosen, würzig duftende Nelken, prachtvolle Dahlien und kleine farbenfrohe Sträuße auf Käufer warteten. Anfangs war Victoria von der ausgesuchten Qualität der Ware angezogen worden, die mit jedem guten Blumengeschäft in Hamburg mithalten konnte. Man spürte sofort, dass hier die Hand eines Menschen am Werk war, der die Blumen nicht allein wegen ihres Geldwertes feilbot. Dann war sie mit Frau Petersen über die Blumensprache ins Gespräch gekommen, und sie hatten eine gemeinsame Leidenschaft entdeckt. Seither war es zu einem Ritual geworden: ein »Guten Morgen« in der Frühe, eine zu Stimmung und Anlass passende Blume am Abend. Sie ließ ein Fuhrwerk an sich vorbeifahren, bevor sie die Straße überquerte.
»Guten Abend, Fräulein Bülau!« Ein warmes Lächeln erhellte das schmale Gesicht der Blumenfrau.
»Frau Petersen! Wie läuft das Geschäft?«
»Ach, jetzt im April geht es besser. Nach der trüben Zeit sehnen sich die Menschen nach ein paar frischen Farbtupfern von Tulpen …« Ein Husten unterbrach sie. »Tulpen und Hyazinthen. Und wenn das Wetter weiterhin so mild bleibt, dauert es nicht mehr lange, bis die ersten Rosen da sind.« Sie musste wieder husten.
»Geht es Ihnen nicht gut, Frau Petersen?«, fragte Victoria und sah besorgt die dunklen Ringe um die Augen der Blumenfrau.
Und war sie nicht noch dünner als gewöhnlich?
Die Frau winkte ab. »Kein Grund zur Sorge, Fräulein Bülau«, sagte sie. »Eine Erkältung, nichts weiter. Nicht ungewöhnlich bei dem Wetter. In ein paar Tagen ist es vorbei und vergessen.«
Sie hustete wieder, doch Victoria fand, dass es sich anders anhörte, trockener, rasselnder als bei einem gewöhnlichen grippalen Infekt. Und sie nahm sich vor, die Blumenfrau in der nächsten Zeit genau zu beobachten.
»Womit kann ich Ihnen heute eine Freude machen, Fräulein? Weiße Nelken habe ich zurzeit nicht, aber …«
Victoria wehrte lachend ab und deutete auf die Bücher unter ihrem Arm. »Ich denke darüber nach, in den Orden der Barmherzigen Schwestern vom heiligen Carl Borromäus einzutreten. Da wäre es nicht ganz passend, den Männern vorzugaukeln, dass ich noch zu haben bin.«
»Na, dann nehmen wir doch Veilchen«, erwiderte Frau Petersen und wählte einen besonders schönen und üppigen Strauß aus dem Eimer. »Bescheidenheit gehört zu einer Ordensschwester, nicht wahr? Obgleich es ein Jammer wäre. Vielleicht überlegen Sie sich diesen Schritt noch.«
»Vielleicht«, erwiderte Victoria und bezahlte. »Guten Abend, Frau Petersen. Bis
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