Haus des Glücks
neuen Wohnung brauchten sie es nicht, es war viel zu wuchtig für den kleinen Salon. Aber das Buch nahm nicht viel Platz weg. Und selbst wenn sie fortan in bescheideneren Verhältnissen leben würden, die Zeit, sich gegenseitig aus ihren Lieblingsbüchern vorzulesen, blieb ihnen erhalten. Sie legte das Buch behutsam in die Holzkiste, die sie in die neue Wohnung begleiten würde.
»Gnädige Frau«, Friederike kam ins Herrenzimmer und knickste. »Ich habe ein kleines Mittagessen für Sie vorbereitet. Es steht auf der Veranda bereit.«
»Danke.« Victoria seufzte und wischte sich mit dem Handrücken das Haar aus der Stirn.
Sie ging auf die Veranda. Auf dem Teetisch stand ein Teller mit kaltem Huhn, Brot und frischem Obst und eine Kanne mit schwarzem Tee. Erleichtert ließ sie sich in den großen Korbstuhl sinken. Sie war müde. Entsetzlich müde. Heute konnte sie gewiss keine Kisten mehr packen. Oder war das nur ihre Art, das Unvermeidliche hinauszuzögern? Ihr Blick schweifte über die Alster, die an diesem Frühlingstag wie ein blanker Spiegel vor ihr lag. Die neue Wohnung lag in einem der alten, schon etwas heruntergekommenen Gebäude mit niedrigen Decken und rußgeschwärzten Balken in den Zimmern. Dort gab es keine verglaste Veranda, auf der sie gemeinsam mit ihren Freundinnen oder mit John Tee trinken konnte. Und wenn sie aus einem der kleinen, zugigen Fenster des Salons sah, hatte sie fortan das Nikolaifleet und die gegenüberliegenden Speicher vor Augen.
Victoria seufzte und trank einen Schluck Tee, während sie sich ins Gedächtnis rief, dass es Schlimmeres als einen Umzug gab. Weitaus Schlimmeres. Ebenso hätte sie jetzt bereits Witwe sein können.
Ohne großen Hunger aß sie ein wenig von dem Huhn und einen Apfel und kehrte zu ihrer Arbeit ins Herrenzimmer zurück. Sie wollte noch heute mit den oberen beiden Regalen fertig sein. Jeden Tag zwei. Dann konnte der Buchhändler wie geplant am Montag kommen und ihnen ein Angebot machen. Victoria stieg die Leiter hoch und nahm die nächsten Bände heraus. Es waren Märchenbücher. Ihre eigenen Märchenbücher. Wie hatte sie die Märchen geliebt! Die Geschichten über Schneewittchen, Dornröschen, Rotkäppchen und Aschenputtel. Eigentlich hatte sie vorgehabt, eines Tages ihren Kindern aus diesen Büchern vorzulesen. Sie schwankte noch, in welche der beiden Kisten sie die Märchenbücher legen sollte, als es an der Haustür läutete. Victoria blickte erschrocken auf die Uhr. Halb drei. Hoffentlich hatte der Buchhändler keinen Fehler gemacht und sich beim Eintrag ihrer Verabredung in der Woche vertan. Es täte ihr leid, ihn wegschicken zu müssen.
Victoria hörte, dass Friederike die Tür öffnete, und trat in den Flur.
»Gnädiger Herr!?«
John stürmte an dem Mädchen vorbei, ohne es recht zu beachten. Der Ausdruck auf seinem Gesicht und die ungewöhnliche Zeit seines Erscheinens waren kein gutes Zeichen.
»Was ist los?«, fragte sie, ihren Herzschlag spürte sie deutlich am Hals.
»Wir haben Nachricht aus London«, sagte er ohne Umschweife.
Victoria begann zu zittern. Wie war es Hiob ergangen? Der eine Bote hatte eben den Verlust der Herden gemeldet und kaum zu Ende gesprochen, da kam auch schon der nächste mit neuer Unglücksbotschaft zur Tür herein. Sollte es ihnen jetzt ebenso ergehen?
»Die Geldgeber erwarten, dass ich nach London überstellt und dort dem Richter vorgeführt werde. Sie verlangen, dass ich ins Zuchthaus gehe, um so meine Schulden abzuarbeiten. Am dreißigsten August kommen Polizisten nach Hamburg, um mich festzunehmen.«
Gefängnis! Victoria bekam keine Luft mehr. Vor ihren Augen tanzten dunkle Punkte, dann sackten ihr die Beine weg.
Als sie zu sich kam, lag sie auf dem Sofa. Friederike legte ihr ein kühlendes Tuch auf die Stirn und flößte ihr ein paar Tropfen Whisky ein, obgleich das Mädchen aussah, als könnte es selbst ein Mittel zur Stärkung brauchen. John saß neben ihr und hielt ihre Hand. Auch er war bleich. Dunkle Ringe umrandeten seine geröteten Augen. Welch unheilvolles Schicksal hatte sie gerade am Kragen gepackt! Es schien, als wären sie verflucht.
»Lassen Sie uns bitte einen Moment allein, Friederike«, sagte John. Er wartete, bis das Mädchen die Tür hinter sich geschlossen hatte, und drückte seine Lippen auf Victorias Hand.
»Mein armer Liebling«, flüsterte er. »In welches Unglück habe ich dich gestürzt? Du hättest mich niemals heiraten dürfen.«
»Nein, John, nein!« Sie schüttelte weinend den
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