Haus des Glücks
sind noch klein, und er hat sonst niemanden, den er mit dem Aufbau eines Kontors betrauen könnte.«
»Und du meinst …«
»Ich glaube, dass er dir zutiefst dankbar wäre, wenn du für ihn nach Samoa gingest. Mit mir natürlich.«
John sah sie zweifelnd an.
»Und? Was sagst du dazu?«
Er fuhr sich erneut durch das Haar, schüttelte ungläubig den Kopf. »Du bist verrückt, Victoria.«
»Nein. Ganz im Gegenteil.«
»Und du bist der Meinung, dein Onkel würde mich mit dieser Aufgabe betrauen wollen?«
»Warum nicht? Er hält viel von dir, das hat er mir gesagt.«
John kaute auf seiner Unterlippe, während er nachdachte. »Samoa«, sagte er schließlich langsam. »Das ist wahrlich weit weg.«
»Weiter geht es kaum.«
»Es scheint, als hättest du recht. Das könnte die Lösung sein. Die Südsee.«
»Meine Worte.«
»Und du würdest mich dorthin begleiten? Hamburg verlassen? Wer weiß, ob wir jemals zurückkehren werden.«
Victoria holte tief Luft. »Weißt du noch, wie wir vor dem Altar gelobt haben, zueinanderzustehen in guten wie in schlechten Tagen?« Sie wartete seine Antwort nicht ab, sondern fuhr fort. »Das sind jetzt die schlechten Tage. Und mein Platz ist an deiner Seite, gleichgültig, wo auf dieser Welt das sein mag.«
John umfasste zärtlich ihr Gesicht. »Habe ich dir schon gesagt, wie sehr ich dich liebe?«
»Heute noch nicht. Aber das kannst du gern nachholen!«
»Ich liebe dich.« Er küsste sie. Dann seufzte er. »Hoffentlich ist dein Onkel einverstanden.«
»Er wird zustimmen, wenn ich mit ihm rede.«
»Das kann ich mir lebhaft vorstellen!«
12
Sommer 1891
G otthard Bülau stand im Behandlungszimmer seiner Praxis und sah aus dem Fenster. In der Rabatte leuchteten bunte Blumen, deren Namen er nicht kannte. Victoria hätte sie gewusst. Sie kannte sich mit Blumen aus. Der Gärtner pflanzte in dem kleinen Beet vor dem Fenster Tulpenzwiebeln. Im nächsten Frühling würden ihre roten Köpfe vor dem Hintergrund der dunklen, regenfeuchten Erde leuchten. Ein Frühling, den Victoria nicht miterleben würde.
Der letzte Patient an diesem Vormittag war gerade gegangen, er hatte noch Zeit, bevor er sich auf den Weg nach Hause zum Mittagessen machte. Eigentlich erledigte er in der Mittagspause gern seine Korrespondenz oder arbeitete an seiner Erfindung – einem Apparat zur Behandlung des Pleuraempyems, der kurz vor seiner Vollendung stand. Er hatte das Gerät bereits an drei Patienten mit Erfolg erproben können. Allerdings war die Handhabung noch umständlich und musste dringend verbessert werden, bevor er damit an die Öffentlichkeit gehen konnte. Doch seit zwei Wochen hatte er die Apparatur nicht mehr angefasst, und jede Arbeit daran ruhte. Er hatte in dieser Zeit auch kaum seine Post studiert, abgesehen von einer Postkarte aus Ägypten, die ihm so viel bedeutete, dass er sie ständig bei sich trug. Er war weder in den Club gegangen noch zu dem monatlichen Treffen der Hamburger Internisten. Er war froh, wenn ein Patient einen Termin absagen ließ. Seine Mittagspausen verbrachte er stehend vor dem Fenster und die Abende zu Hause bei Klara. Stillstand war eingetreten, er war wie gelähmt. Die Gegenwart seiner geliebten Frau war das einzig wirksame Mittel gegen das erdrückende Gefühl der Einsamkeit, das ihm seit zwei Wochen unerbittlich die Kehle zuschnürte.
Gotthard beobachtete eine Amsel, die mit einem Wurm im Schnabel auf den Jungvogel zuflog, der auf dem Rasen hockte. Die Glückliche. Sie hatte ihre Jungen noch beisammen. Er wünschte, seine Kinder wären auch noch bei ihm. War es nicht schon schwer genug gewesen, sie in die Obhut eines anderen Mannes zu übergeben? Jetzt war sein Mädchen, seine kleine Victoria mit dem Schiff auf dem Weg in die Südsee.
Fast musste er lachen, wenn er daran dachte, dass er sich gesträubt hatte, sie zum Studium in die Schweiz gehen zu lassen. Die Schweiz! Ein zivilisiertes Nachbarland, das man in einigen Stunden Zugfahrt erreichen konnte, und in dem die Menschen Deutsch sprachen. Nach Samoa gab es nicht einmal eine direkte Schiffsverbindung. Victoria und John mussten im australischen Sydney auf den Reichspostdampfer
Lübeck
warten, der so etwas wie eine Linienverbindung zwischen der zivilisierten Welt und ein paar Inseln der Südsee aufrechterhielt. Er wusste nicht, ob Samoa dazugehörte, und in seinen schlaflosen Nächten verfolgten ihn Bilder von Victoria und John, die sich von grässlich bemalten Wilden in einem Einbaum von Tonga nach Samoa
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