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Haus Ohne Hüter

Haus Ohne Hüter

Titel: Haus Ohne Hüter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böl
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her: fluserig aufgeweichte Spur, die sich verbreiterte, auflöste. Nichts war vom Flugzeug zu sehen. Nella versuchte, sich den Flieger vorzustellen: Sturzhelm und schmales, traurig verbissenes Gesicht; sie versuchte sich in seine Lage zu versetzten. Winziger See dort unten, Stecknadelkopf Ȭ , fingernagel Ȭ oder armbanduhrgroße, auf gekräuselte grüne Fläche zwischen dunklen Wäldern. Sah er sie? Langsam und scheinbar mühsam zog er seine schwere Schleppe hinter sich her: gelblich zerfaserter Schwanz am hellblauen Himmel. Mühsam wühlte er sich durch die quälende Eintönigkeit des hellblauen Himmels, bis er hinter den Bäumen verschwand. Seine Spur oben verwehte immer mehr, und hinten über Schloß Brernich, wo er aufgekreuzt war, war der Himmel schon wieder klar. Nur die Fahne stand dort standhaft und hart, nur leise zitternd im Wind: ein goldenes Schwert, ein rotes Buch und ein blaues Kreuz auf weißem Grund, intelligent ineinander verwoben zu einem bestechenden Symbol.
    Jetzt tranken die Tagungsteilnehmer den Kaffee nach dem Essen, schüttelten
    bewundernd die Köpfe über Gäselers Referat und stellten fest, was jetzt festzustellen war: Noch ist nicht alles verloren.
    Nella schwamm noch einmal langsam auf dem Rücken zurück, sie schmeckte die Bitternis fauliger Tropfen, die von der Kappe in ihr Gesicht rollten, und Ȭ gegen ihren Willen fast Ȭ lachte sie leise vor sich hin, weil das Wasser so wohl tat. Aus dem Wald scholl die Trompete des Postautos herüber: künstliches, durch viele Windungen gequetschtes Posthorngetön. Sie schwamm ans Ufer zurück, leise vor sich hinlachend, stieg aus dem Wasser und blickte der Spur des Fliegers nach, die sich, plötzlich abfallend, hinter den Wäldern verlor. Der Bademeister grinste ihr anerken Ȭ
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    nend zu, als sie an seiner Veranda vorbei in die Kabine ging. Verfaulender
    Sommergeruch war im feuchten Holz: weißer Schimmel zwischen den Rillen, grünlich verfilzt nach unten zu, wo die Feuchtigkeit stärker war. Der gelbe Lack an der Kabinenwand war angebröckelt; auf eine heile Stelle, die die Größe eines Handtellers hatte, war geschrieben: »Eine Frau zu lieben ist schöner Ȭ für eine Frau.« Intelligente, herrische Schrift, die Härte und Zärtlichkeit verhieß, Schrift, die »Nicht genügend« und »Gut« oder »Knapp ausreichend« unter Aufsätze über Wilhelm Teil schrieb:
    »Geh nicht zu nah ran«, schrie die Stimme draußen, sahnekuchenfrei, »hab ȇ ich ȇ s dir nicht gesagt?«
    Nella gab dem Bademeister Geld, lächelte ihm zu, und der Bademeister grinste, nahm den feuchten Badeanzug, die Kappe und das Handtuch. Draußen trompetete der Omnibus falsch und fröhlich, Postkutschengetön, und Nella winkte dem Schaffner von weitem zu und lief.
    Der Schaffner wartete. Er hatte die Fahrscheinmappe geöffnet. »Nach Brunn«, sagte sie. »Stadtmitte?«
    »Nein«, sagte sie, »Ringstraße.« »Eins dreißig«, sagte der Schaffner.
    Sie gab ihm eins fünfzig, Ȭ sagte: »Ist gut so«, und der Schaffner schloß die
    Tür, drückte auf den Knopf im Lenkrad und trompetete noch einmal, ehe er abfuhr.

    18

    »Es wird alles anders werden«, sagte Albert. Er schien auf Antwort zu warten, blickte Martin an, aber Martin schwieg. Die Veränderung in Alberts Gesicht beunruhigte ihn, weil er nicht wußte, ob sie die Folge seines Ausbleibens war, und er wußte nicht, ob sich Alberts Frage auf sein Ausbleiben bezog.
    »Alles«, sagte Albert, »wird anders werden«, und da er offensichtlich auf eine Antwort wartete, fragte Martin schüchtern: »Was?«
    Aber Albert hielt jetzt an der Kirche, stieg aus und sagte: »Wir können Bolda mitnehmen.«
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    Martin wußte, daß Albert krank wurde, wenn er nicht pünktlich kam, und es
    wurde ihm jetzt übel bei dem Gedanken, daß er Albert vier Stunden hatte warten und vergebens suchen lassen. Er spürte die Macht, die er über Albert besaß, und dieses Bewußtsein verursachte ihm nicht Glück, sondern Unbehagen. Bei Jungen, die Väter hatten, war es anders. Die Väter waren nicht besorgt, sahen nicht krank aus, wenn die Jungen zu spät kamen; sie empfingen sie stumm, gaben ihnen Prügel, und die Jungen wurden ohne Essen ins Bett geschickt. Das war hart, aber überschaubar, und Martin wünschte sich nicht Prügel von Albert, sondern etwas anderes, das er nicht ausdrücken, nicht einmal in Gedanken formulieren konnte. Es gab Worte, die unklar erschienen, aber einen klaren Komplex von Vorstellungen und Gedanken heraufbeschworen. Wenn er

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