Haus Ohne Hüter
»scheußlich«, den Großmutter »geradezu gemein« fand, ein Geruch aber, bei dem sich Glums Nase entzückt kräuselte
und der ihm selbst wohlgefällig war: Er mochte Boldas Bouillon aus einem ganz besonderen Grund, den noch keiner erraten hatte: es war dieselbe Bouillon, nach der es auch bei Brielachs roch: nach Zwiebeln, nach Talg, Lauch und jenem Unbestimmbaren, das Onkel Albert »Kaserne« nannte. Hinten, wo das Heizungsrohr am Gasherd entlanglief, stand
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immer die henkellose, grüne Tasse, in der Bolda ihren Spezialtrunk grün und dick werden, zu einem fast schlammigen Konzentrat zusammendampfen ließ: Wermut Ȭ Tee, lauwarme Bitternis, die im Mund den Speichel zusammentrieb, im Hals an Bitternis, unendlicher Bitternis zunahm, im Magen dann wohlige Wärme hervorrief. Nachher blieb unendliche Bitternis im Mund, die sich tropfenweise in die Speisen mischte, die man später aß: Brot, mit Wermut durchknetet, Suppe, von Wermut gewürzt, und immer noch Ȭ wenn man längst im Bett lag Ȭ wohltuende Bitternis, die aus geheimen Ecken des Mundes, aus verborgenen Reserven zum Gaumen strömte und sich auf der Zunge mit Speichel mischte.
»Jede Woche einen Schluck Wermut Ȭ Tee« war Boldas Parole, und jeder, dem
übel war, der Magenschmerzen verspürte, durfte sich aus ihrer grünen, henkellosen Tasse bedienen. Sogar die Großmutter, der alles, was Bolda aß und trank, ein Greuel war, sogar Großmutter genoß heimlich Schlucke dieser unendlich konzentrierten Bitternis. Jede Woche nahm Bolda trockene, grün Ȭ lichgraue Blätter aus einer zerschlissenen braunen Papiertüte und kochte eine neue Tasse voll. »Besser als Kognak«, murmelte sie, »besser als Doktoren, besser als die ganze dumme säuische Zuvielfresserei, Zuvielsauferei, Zuvielraucherei, besser als alles ist Wermut Ȭ Tee und ein guter Choral.« Sie sang oft, obwohl sie eine schreckliche Stimme hatte: krächzendes Tasten nach Rhythmen und Melodien, die sie zu treffen glaubte, aber nie traf. Ihr Ohr schien so unmusikalisch wie ihre Stimme, denn ihr schrecklicher Gesang kam in ihren eigenen Ohren offenbar als Wohlklang an, und sie quittierte sich selbst jeden Vers, den sie sang, mit einem triumphierenden Grinsen. Sogar Glum, der nur selten die Ruhe verlor, unendliche Geduld gegen alles und alle bewies und eine Woche, ohne zu murren, bei Blut im Urin aushielt, sogar Glum konnte werden, was er sonst nie wurde: »Ner Ȭ vözz Ȭ oh, Bolda, du machst mich ganz nervözz... « Nun war aber Boldas Bouillon heiß, die Brötchen waren geschmiert, und die große, gelbe Henkeltasse in der Hand, schlich er leise auf Strümpfen neben Bolda die Treppe hinauf in Boldas Zimmer, vorbei an dem riesigen Ölgemälde, das den Großvater zeigte: einen traurigen , hageren Mann mit auffallend rotem Gesicht, der die Hand mit der brennenden Zigarre auf einen grünen Tisch stützte. Darunter das
Chef zum 25jährigen Geschäftsjubiläum 1938 Ȭ die dankbare Gefolgschaft.«
Immer sah es aus, als würde die weißgraue, wunderbar gemalte lange Asche im nächsten Augenblick auf den spiegelblanken Tisch fallen, und manchmal träumte er davon, sie sei heruntergefallen, er erwachte morgens aus leisem Alpdruck und lief zur Treppe, um nachzusehen: Sie hing noch da. Sie hing immer noch da: viel zu lang, weißgrau, wunderbar richtig gemalt, und die Tatsache, daß sie immer noch da hing, verursachte sowohl Erleichterung wie neuen Alpdruck, denn wäre sie endgültig gefallen, wäre alles gut gewesen. Auch die Uhrkette war zum Greifen deutlich und die feine silbergraue Krawatte mit der hellblauen Perle, und jedesmal sagte Bolda: »Das war ein guter Mensch, Holsteges Karl« — womit sie wohl andeuten wollte, daß die Großmutter kein so guter Mensch sei, wie der Großvater gewesen war. Boldas blauer Rock roch immer nach Seifenlauge, immer auch war er, bis weit über den Saum hinauf, mit Seifenspritzern bedeckt, denn Boldas Hauptbeschäftigung bestand darin, ehrenamtlich verschiedene Kirchen zu
schrubben. Ehrenamtlich Ȭ »nicht für Geld« Ȭ schrubbte sie drei Kirchen: die
Pfarrkirche, wo sie in besonders großen, schaumbedeckten Laugelachen zweimal wöchentlich sich triumphierend vom Eingang bis zur Kommunionbank durchpaddelte, dann ehrfürchtig die Teppiche vor dem Altar aufrollte und in einer kleineren, mit mehr Schaum bedeckten Lache Ȭ weißgekrönt war diese Lache Ȭ um den Altar herumschwebte wie ein dunkler Engel auf einer Wolke. Außerdem reinigte sie die Notkirche draußen im Park
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