Haus Ohne Hüter
ich noch nicht da bin, und mach kein
Licht.«
Bolda unterbrach ihr Gebet: »Deine Mutter wird einen Schrecken kriegen, wenn du nicht da bist.« »Wir brauchen ja nicht zu hören, daß sie gekommen ist.« »Nicht lügen, mein Söhnchen.« »Aber eine Viertelstunde kann ich noch bleiben?« »Gut, aber keine Minute länger.«
Wäre die Mutter allein gekommen, er wäre hinuntergelaufen, auf die Gefahr
hin, daß Blut im Urin sofort ausbrechen würde. Aber er haßte alle Leute, die zur Mutter kamen, besonders den Dicken, der immer von Vater sprach. Weiche Hände und »exquisites Zuckerzeug«. Noch grüner wurde das Licht, schwärzer wurde Bolda und ihr Haar noch schwärzer als sie selbst: dicke, tintige Finsternis ihr Haar, auf das nur ein Tupfer, ein winziger Hauch des grünen Lichts fiel: trockenes, langes, ganz glattes Haar und Boldas Gemurmel und im Dunkeln, was immer im Dunkel auftauchte: Gäseler Ȭ und unmoralisch und unschamhaft und das
Wort, das Brielachs Mutter zu dem Bäcker gesagt hatte Ȭ und Katechismusnummern, die aus dem Dunkeln rappelten: Wozu sind wir auf Erden ?
Unmoralisch war alles, und vieles war unschamhaft, und Brielach hatte kein Geld und rechnete stundenlang herum, wie er sparen könnte.
Boldas Gemurmel am Fenster, die dunkle Indianerin, und das Zimmer erfüllt von dem Spiel des grünlich Ȭ gelblichen Lichts, und der Wecker auf dem Bord über Boldas Bett, der leise und langsam tickende Wecker, während unten sich Lärm ausbreitete, unerbittlich alles zerstörender Lärm; kichernde Frauen, la Ȭ chende Männer, und die Schritte der Mutter, die schlechtgeölte Kaffeemühle Ȭ
»oder mögen Sie lieber Tee?« Ȭ , bis plötzlich das wilde Gebrüll in der Diele
ertönte: »Ich habe Blut im Urin Ȭ Blut im Urin.«
Atemlose Stille dort unten, und er empfand fast Genugtuung über Großmutters Gewaltakt. Bolda klappte ihr Gebetbuch zu, wandte sich zu ihm und schubste die Schultern, freundlich und innig und sehr ausgiebig kichernd, und sie flüsterte leise: »Was Ȭ das hat sie doch mal gut gemacht — oh, du hättest sie früher kennen müssen, so schlimm ist sie nicht.« Blut im Urin.
Das schien Mutters Gästen nicht die gewohnte Musik, hielt sie für
Augenblicke im Bann, dann machte wieder gedämpftes Gemurmel sich unten breit. Er hörte die Stimme der Mutter aus Alberts Zimmer, wo sie mit dem Arzt telefonierte, und die Großmutter schwieg, denn nun, nachdem man den Arzt angerufen hatte, war ihr sicher, was zunächst genügte: Die Spritze. Seltsames, geheimnisvolles Instrument aus Nickel und Glas, winzig und sauber, viel zu sauber, libellenhaftes Tier mit dem Schnabel eines Kolibri Ȭ durchsichtiger Kolibri, der sich den Bauch vollsaugte aus dem Glasröhrchen und seine spitze Schnauze dann in Großmutters Arm bohrte.
Die Stimme der Großmutter, die dunkel und reich wie eine Orgel aufbrüllen
konnte, erklang jetzt aus Mutters Zimmer. Sie sprach mit den Gästen.
Bolda knipste das Licht an, und vorbei war der grüne Zauber, der schwarze Zauber, vorbei das Glück, auf Boldas Nonnenwartezimmersofa zu hocken und ihr Gemurmel zu hören. »Nichts mehr zu machen, mein Söhnchen, jetzt mußt du runter, kannst
gleich ins Bett gehen, hab keine Angst, du darfst sicher bei Onkel Albert
schlafen.«
Bolda lächelte, denn sie hatte das richtige Zauberwort gefunden: bei Onkel Albert schlafen.
Er lächelte Bolda zu, sie lächelte ihm zu, und er stieg langsam allein die Treppe hinunter Ȭ wie der Schatten eines riesigen wilden Tiers stand die Großmutter in der offenen Tür zu Mutters Zimmer, und er hörte sie sagen, ganz sanft sagte sie es mit ihrer dunklen Orgelstimme: »Meine Herrschaften, bedenken Sie bitte, ich habe Blut im Urin.« Ein Alberner sagte drinnen:
»Gnädige Frau, der Arzt ist schon verständigt.«
Nun aber hatte sie ihn gehört, schwenkte heftig herum, stürzte in ihr Zimmer und brachte die Urinflasche wie einen kostbaren Tribut, den er Ȭ auf der dritten Treppenstufe stehend Ȭ entgegennehmen mußte: »Denke, mein Herzchen, ich habe es wieder.«
Und er sagte, was zu sagen er verpflichtet war in dieser weihevollen Stunde:
»Ist ja nicht so schlimm, liebe Großmutter, der Doktor wird kommen.«
Und sie sagte, was zu sagen sie gewohnt war in dieser weihevollen Stunde, das Uringlas langsam zurücknehmend, nachdem sie annehmen konnte, er habe die dunkelgelbe Brühe gebührend gewürdigt. Sie sagte: »Du bist gut, mein Herzchen, denkst an die Oma«, und er schämte sich, weil er gar
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