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Haus Ohne Hüter

Haus Ohne Hüter

Titel: Haus Ohne Hüter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böl
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lachenden Gefreiten, des lachenden Unteroffiziers, des lachenden Feldwebels, ein hübsches Gesicht, so ernst, wie das des Vaters gewesen war. »Mutter«, sagte er, »du bist noch nicht weg?« »Ich gehe gleich«, sagte sie, »es ist nicht so schlimm, wenn ich mal zu spät komme. Holst du mich heute wieder ab?«
    Sie beobachtete ihn genau, aber es war kein Schatten auf seinem Gesicht, als
    er ohne zu zögern »Ja« sagte.
    »Wärm dir die Suppe«, sagte sie, »und hier sind Orangen – für dich eine und für Wilma eine, laß sie schlafen.«
    »Ja«, sagte er, »danke. Und der Zahnarzt?«
    »Das erzähl ich dir später, ich muß jetzt gehen. Du holst mich also ab?«
    »Ja«, sagte er. Sie küßte ihn und öffnete die Tür, und er rief ihr nach: »Ich komme, ich komme bestimmt.«

5

    Martin blieb stehen, öffnete das Hemd und suchte nach der Schnur, an der der Hausschlüssel befestigt war: morgens, wenn er ihn umgehängt bekam, war der Schlüssel kühl, lag unten in der Nähe des Nabels, scheuerte leicht, begann dann, sich zu erwärmen, und wenn er warm war, spürte er ihn nicht mehr. Schon hatte er im Dämmerlicht den weißen Zettel erkannt, der an die Tür geheftet war, aber er zögerte noch, den Knopf des Lichtautomaten zu drücken und zu erfahren, welche Mitteilung derZettel enthielt. Er beugte den Oberkörper und brachte den Schlüssel an der Schnur so heftig zum Pendeln, daß er links am Ohr vorbei um den Kopf herum auf die rechte Wange schlug: Dort ließ er ihn einen Augenblick liegen und beförderte ihn mit einem Ruck wieder nach vorne. Mit der linken Hand tastete er nach dem Knopf des Lichtautomaten, mit der rechten nach dem Schlüsselloch und lauschte angestrengt nach drinnen: Er glaubte zu spüren, daß niemand da war. Der Zettel enthielt sicher die Mitteilung, daß auch Albert hatte wegfahren müssen. Wenn er »niemand« dachte, schloß er die Großmutter aus, die bestimmt da war. Sie war immer da. Zu denken »niemand ist da«, hieß zu denken »die Großmutter ist da, sonst niemand«. Das »sonst« war entscheidend, ein Wort, das der Lehrer haßte, der auch »eigentlich« haßte, »überhaupt« und
    »sowieso«, Wörter, die wichtiger waren, als die Erwachsenen wahrhaben
    wollten. Er hörte die Großmutter sogar, sie ging murmelnd in ihrem Zimmer auf und ab, und die Schritte ihres schweren Körpers brachten die Gläser in der Vitrine zum Klirren. Indem er die Großmutter hörte, sah er sie auch, sie
    und die riesige, schwarzgebeizte altmodische Vitrine, die alt war, was
    was alt war, war auch kostbar, alte Kirchen, alte Vasen. Durch ein paar lose Bretter, die unter dem Parkettboden lagen, wurde die Vitrine, wenn die Großmutter auf und ab ging, in ständiger leiser Bewegung gehalten, und die Gläser klirrten mit einer sanften Stetigkeit. Die Großmutter durfte keinesfalls hören, wenn er nach Hause kam. Sie würde ihn hereinrufen, würde ihn mit Dingen füttern, die er nicht mochte, mit rosigen Fleischstücken, würde ihm den Katechismus abfragen und die alten feststehenden Gäseler Ȭ Fragen stellen. Er drückte auf den Lichtknopf, las den Zettel, den Onkel Albert geschrieben hatte: »Ich mußte doch weg.« Das »doch« war dreimal unterstrichen. — »Komme um sieben zurück, warte mit dem Essen auf mich.« Daß Albert das »doch« dreimal unterstrichen hatte, bewies die Wichtigkeit dieser Wörter, die der Lehrer haßte und deren Anwendung ver Ȭ boten war. Er war froh, daß das Licht wieder ausging, denn es war zu befürchten, daß die Großmutter herausstürzen, es sehen, ihn zu sich hereinzerren, ihn examinieren, füttern würde; rosiges Fleisch, Süßigkeiten, Zärtlichkeiten, das Katechismusspiel, das Gäseler Ȭ Fragespiel. Ȭ Das mindeste aber, was sie tun würde: in die Diele stürzen und brüllen: »Ich habe wieder Blut im Urin.« Dabei schwenkte sie dann ihr gläsernes Nachtgeschirr, weinte dicke Tränen. Er ekelte sich vor ihrem Urin, hatte Angst vor der Großmutter und war froh, als das Licht wieder ausging. Draußen waren die Gaslaternen schon angezündet: gelblichgrün schimmerte es durch die dicke Verglasung des Vorbaus über seinen Rücken herauf zur Wand hin und warf seinen Schatten Ȭ einen schmalen, grauen Schatten — gegen die dunkle Tür. Der Finger ruhte immer noch auf dem Lichtschalter, und gegen seinen Willen drückte er darauf, und da war es, was er immer mit Spannung erwartete: Sein Schatten sprang aus dem Licht heraus wie ein dunkles, sehr schnelles Tier, schwarz und streng,

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