Haus Ohne Hüter
Großmutter rief, aber meistens erwischte sie ihn, schleppte ihn ab, und er mußte stundenlange Lektionen über sich ergehen lassen, nahm verworrene Aufklärungen über Leben und Tod entgegen und mußte seine Kenntnisse in Katechismus beweisen. Bolda, die mit der Großmutter zusammen die Schule besucht hatte, wußte allerdings boshaft kichernd zu erzählen, daß die
Katechismus nie gekonnt hatte. Mühsam atmend, weil das Zimmer voller Zigarettenqualm war, saß Martin auf dem Sessel ihrem Schreibtisch gegenüber, betrachtete das aufgeschlagene Bett, den Teewagen mit dem schmutzigen Frühstücksgeschirr, und der Junge nahm die verschiedenen Färbungen der Qualmschichten in sich auf: blau, strahlend blau fast waren die winzigen, runden Wölkchen, die die Großmutter ausstieß, bevor sie den Rest in die Lunge pumpte. Sie war stolz darauf, daß sie schon seit dreißig Jahren rauchte und inhalierte mit Nachdruck Ȭ dann kam aus ihrem Munde der hellgraue, nur leicht bläulich gefärbte Stoß, der in der Lunge gefiltert worden war: heftig ausgestoßener Strahl, der sich einige Sekunden lang in dem dichten, schiefergrauen, gleichmäßigen Qualm, der das Zimmer füllte, hielt: ein stumpfes, bitteres Grau, und an einigen Stellen des Raumes Ȭ oben an der Decke, unter dem Bett und vor dem Spiegel Ȭ ballte sich das Schiefergrau zu dichten, weißlich konzentrierten Wolken zusammen, die auseinander Ȭ gezogenen Wattebäuschchen glichen.
»Dein Vater ist gefallen, nicht wahr?« » Ja. «
»Was bedeutet >gefallen«
»Im Krieg gestorben, erschossen worden.«
»Wo?« »Bei Kalinowka.«
»Wann?«
»Am 7. Juli 1942.«
»Und wann wurdest du geboren?«
»Am 8. Oktober 1942.«
»Wie heißt der Mann, der deines Vaters Tod verschuldete?«
»Gäseler.«
»Wiederhole diesen Namen.«
»Gäseler.«
»Noch einmal.«
»Gäseler.«
»Wozu sind wir auf Erden?«
»Um Gott zu dienen, ihn zu lieben und dadurch in den Himmel zu kommen.«
»Weißt du, was es bedeutet, einem Kind seinen Vater nehmen?« »Ja«, sagte
spiel hatte einen großen blonden Vater, Weber hatte einen kleinen schwarzen
Vater. Die Jungen, die Väter hatten, hatten es schwerer in der Schule als die, die keine hatten. Hatte Weber schlecht gelernt, wurde er schärfer angepackt als Brielach, wenn dieser schlecht gearbeitet hatte. Der Lehrer war alt, hatte graue Haare und hatte »einen Sohn im Krieg verloren«. Von den Jungen, die keine Väter hatten, hieß es: Er hat den Vater im Krieg verloren; Schulräten wurde es zugeraunt, wenn ein Junge bei Visitationen versagte Ȭ und Lehrer sagten es von Jungen, die neu in die Klasse kamen: Er hat den Vater im Krieg verloren. Es klang, als hätte er ihn stehenlassen wie einen Schirm oder ihn verloren, wie man eine Groschen verliert. Sieben Jungen in der Klasse hatten keinen Vater mehr: Brielach und Welzkam, Niggemeyer und Poske, Behrendt und er, außerdem Grebhake, aber Grebhake hatte einen neuen Vater, und das Gesetz geheimnisvoller Schonung waltete nicht so sicher über ihm wie über den anderen sechs: Es gab Nuancen der Schonung. In vollem Umfang genos Ȭ sen die Schonung nur drei: Niggemeyer, Poske und er, aus Gründen, die er langsam in jahrelanger Beobachtung und Erfahrung herausgefunden hatte: Grebhake hatte einen neuen Vater, Brielachs und Behrendts Mütter hatten Kinder, die nicht von den verstorbenen Vätern, sondern von anderen Männern waren. Er wußte, wie die Kinder auf die Welt kamen. Onkel Albert hatte es ihm erklärt: durch Vereinigung der Männer mit den Frauen. Brielachs und Behrendts Mütter hatten sich mit Männern vereinigt, die nicht ihre Männer, sondern Onkels waren. Und diese Tatsache wurde durch ein weiteres, halb geheimnisvolles Wort erklärt: unmoralisch. Aber auch Welzkams Mutter war unmoralisch, obwohl sie kein Kind von Welzkams Onkel hatte, denn es war eine weitere Erkenntnis und Erfahrung: Männer und Frauen konnten sich vereinigen, ohne daß es Kinder gab, und die Vereinigung einer Frau mit einem Onkel war unmoralisch. Die Jungen, die eine unmoralische Mutter hatten, genossen merkwürdigerweise nicht ganz soviel Schonung wie die Jungen, deren Mütter nicht unmoralisch waren Ȭ am schlimmsten aber war es für die, am wenigsten Schonung aber genossen die, deren Mütter Kinder von Onkeln hatten: schmerzlich und unerklärlich, daß unmoralische Mütter den Grad der Schonung verringerten. Bei den Jungen, die Väter hatten, war alles anders: Es war geregelt, unmoralisch gab es nicht.
»Paß doch
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