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Haus Ohne Hüter

Haus Ohne Hüter

Titel: Haus Ohne Hüter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böl
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auf«, sagte die Großmutter. »Frage fünfunddreißig: Wozu wird
    Jesus am Ende der Welt wiederkommen?« »Jesus wird am Ende der Welt wiederkommen, um die Menschen zu richten.«
    Würde sich das Gericht gegen unmoralisch wenden? Leise Zweifel befielen ihn.
    »Schlaf nicht ein«, sagte die Großmutter. »Frage achtzig: Wer begeht eine Sünde?«
    »Eine Sünde begeht, wer ein Gebot Gottes freiwillig übertritt.« Die
    Großmutter liebte es, den Katechismus kreuz und quer abzufragen, aber noch nie hatte sie eine Lücke bei ihm entdeckt. Nun klappte sie das Buch zu, zündete eine neue Zigarette an, atmete den Rauch tief ein.
    »Wenn du einmal größer bist«, sagte sie freundlich, »wirst du begreifen,
    warum... «
    Von diesem Augenblick an hörte er nicht mehr zu. Jetzt kam der lange Abschlußvortrag, der keine Fragen mehr enthielt, also auch nicht die geringste Aufmerksamkeit erforderte: Die Großmutter sprach von Pflichten, von Geld, von der aromatischen Konfitüre, vom Großvater, von den Gedichten seines Vaters, las ihm Zeitungsausschnitte vor, die sie sorgsam auf rötliche Pappe hatte kleben lassen, in dunklen Formulierungen umkreiste sie das sechste Gebot.
    Aber selbst Niggemeyer und Poske, die keine unmoralischen Mütter hatten,
    genossen nicht die Schonung, die er genoß, und er wußte längst woher es kam: Auch ihre Väter waren gefallen, auch ihre Mütter vereinigten sich nicht mit anderen Männern — aber seines Vaters Name stand manchmal in der Zeitung, und seine Mutter hatte Geld. Diese beiden wichtigen Punkte fielen bei Niggemeyer und Poske weg: Ihre Väter standen nie in der Zeitung, und ihre Mütter hatten keins, hatten nur wenig Geld. Manchmal wünschte er, diese beiden Punkte würden auch für ihn wegfallen, denn er wollte diese übermäßige Schonung nicht genießen. Er sprach darüber mit niemandem, nicht einmal mit Brielach und Onkel Albert, und er bemühte sich tagelang, in der Schule schlecht zu sein, um den Lehrer zu veranlassen, ihn so wenig zu schonen, wie er Weber schonte, der dauernd Prügel bekam: Weber, dessen Vater nicht gefallen war Ȭ Weber, dessen Vater kein Geld hatte. Aber der Lehrer schonte ihn weiter. Er war alt, grauhaarig,
    müde, hatte »einen Sohn im Krieg verloren«, und er blickte ihn so traurig an,
    wenn er die Antwort nicht zu wissen vorgab, bis er, von Mitleid und Rührung überwältigt, doch richtig antwortete.
    Während die Großmutter ihren Abschlußvortrag hielt, konnte Martin
    beobachten, wie der Rauch sich immer dichter zusammenballte. Er mußte nur hin und wieder die Großmutter anblicken, um den Eindruck zu erwecken, er höre ihr zu Ȭ dann konnte er weiter an Dinge denken, die ihn angingen: das schreckliche Wort, das Brielachs Mutter zum Bäcker gesagt hatte, das Wort, das immer im Flur zu Brielachs Wohnung an der Wand stand Ȭ und an das Fußballspiel konnte er denken, das in drei, in vier Ȭ höchstens in fünf Minuten draußen beginnen würde auf dem Rasen vor dem Haus. Noch zwei Minuten, denn schon war die Großmutter bei der aromatischen Konfitüre, die irgendeinen Zusammenhang mit seinen Pflichten hatte. Glaubte sie wirklich, er würde die Marmeladenfabrik übernehmen? Nein, er würde sein ganzes Leben lang nur Fußball spielen, und es machte ihm Spaß und auch Angst, sich vorzustellen, daß er zwanzig Jahre, daß er dreißig Jahre lang Fußball spielen würde. Ȭ Noch eine Minute. Er horchte auf, als das helle, kurze Klingen ertönte, mit dem die Großmutter den Scheck aus ihrem Buch riß. Sie belohnte seine tadellosen Kenntnisse in Katechismus, sein aufmerksames Zuhören immer mit einem Scheck. Jetzt faltete sie ihn zusammen, und er nahm das zusammengefaltete bläuliche Stück Papier entgegen und wußte, daß er gehen durfte. Nur noch die Verbeugung, nur noch das »Danke, liebe Großmutter«, und er öffnete die Tür, und eine Wolke von Zigarettenqualm begleitete ihn in die Diele...

9

    Albert fürchtete sich vor dem Inhalt des Kartons, andererseits aber hoffte er auf ihn. Er wußte, daß der Karton sehr viele Zeichnungen enthielt, die er damals in London gemacht hatte, vor und nach Leens Tod. Er fürchtete, daß die Zeichnungen schrecklich sein könnten, hoffte aber zugleich, daß sie gut wären, denn er mußte jetzt jede Woche eine Serie von Witzen für Wochenend im Heim zeichnen und quälte sich oft tagelang herum, weil ihm nichts einfiel. Er
    öffnete den Karton an einem Tag, wo er allein
    mit Glum im Hause war: Nellas Mutter war mit Martin in die

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