Haus Ohne Hüter
die
Mutter fragen.« »Wiedersehen.«
Er konnte den Weg, zu dem er sonst eine Viertelstunde brauchte, in fünf Minuten schaffen. Er lief sehr schnell, atmete ungeschickt vor Ungeduld und sah schon von weitem, daß Alberts Wagen
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nicht vor der Tür stand. Er verschnaufte auf einer Gartenmauer, blickte rückwärts in die Allee hinein, die Albert herunterkommen mußte, wenn er von Bresgote kam. Nach Hause zu gehen, hatte er keine Lust. Bolda war weg, Glum war weg, und Freitag war ein gefährlicher Tag, ein Großmuttertag. Blut im Urin war noch nicht ganz abgeklungen, und in Vohwinkels Weinstube wurden heute vier Dutzend verschiedene Sorten Fisch geboten, und er mochte Fisch nicht. Wenn Albert um die Ecke bog, würde er ihn hier gleich sitzen sehen, und er war wütend auf Albert, weil sein Auto noch nicht vor der Tür stand. Er stand auf, schleppte sich bis zur Tankstelle zurück, die dem Ende der Allee gegenüberlag.
Jetzt erst kamen die Bummlerinnen durch die Allee, denen er sonst immer an der Ecke begegnete; sie überschritten den Fahrdamm, blickten auf den goldenen, großen Zeiger der Kirchenuhr und setzten sich in Trab. Einzelne abgehetzte Mädchen kamen immer noch die Allee herauf. In der Ferne sah er eine ganze Gruppe, die langsam ging. Er kannte sie alle, denn die, die jetzt zu spät kamen, waren dieselben, denen er begegnete, wenn die Schule mittags anfing. Denen, die jetzt die Allee heraufkamen, begegnete er dann an der Tankstelle, auf deren Mauen er saß. Heute war der Rhythmus gestört, und er ärgerte sich, daß er gelaufen war. Sonst war er der allerletzte und saß hier auf der Mauer der Tankstelle, wenn die mutlosen Bummlerinnen kamen, die nicht einmal mehr liefen, weil es zwecklos war. Das waren die, die jetzt hinten in der Allee über die Schatten der Bäume sprangen wie über Schwellen, die traf er sonst hier an der Tankstelle, und heute war er schon fast zu Hause gewesen, wieder zurückgegangen, und sie waren immer noch nicht hier. Mit fliegendem Haar und erhitzten Gesichtern liefen gerade die vorbei, die es noch nicht gewohnt waren, zu spät zu kommen. Der große Zeiger der Kirchenuhr stand knapp vor der Drei, und es war zwecklos, daß sie liefen, denn sie würden sowieso zu spät kommen.
Onkel Alberts Auto kam nicht, und er empfand das Warten wie eine Verdammnis, an der Albert die Schuld trug. Jetzt kam die Gruppe der langsamen Bummlerinnen über die Straße, es schlug Viertel nach eins, und der alte Rhythmus war wiederhergestellt. Umsonst gelaufen, umsonst sich beeilt, denn es war wie an anderen Tagen. Die Bummlerinnen lachten,
bewunderte sie, die gehörten zu den Sturen, zu denen er so gerne gehört hätte.
Es gab die Sturen, das waren die, denen alles egal war. Stur war ein Begriff, der rätselhaft blieb, denn es gab Sture, deren Eltern Geld hatten, und es gab Sture, deren Eltern kein Geld hatten. Brielach konnte stur sein, und bei ihm war die Sturheit mit Stolz gemischt, deutlich war auf seinem Gesicht zu lesen: Was wollt ihr? Ȭ Stur, das waren alle die, von denen der Rektor sagte, sie müßten gebrochen werden, das hörte sich schrecklich an, als würde Brennholz zerbrochen, würden Knochen geknackt, und eine Zeitlang hatte er geglaubt, die gebrochenen Sturen seien dieselben, die in Vohwinkels Weinstube den Fressern vorgesetzt wurden. Im zweiten Schuljahr war Hewel gebrochen worden und dann verschwunden. Hewel war von der Polizei in die Schule geholt worden, war aber immer in der Pause verschwunden. Später hatte er Born verführt, dasselbe zu tun. Hewel und Born wohnten zusammen im Bunker, sie hatten damals schon Unschamhaftes getan, und wenn sie geschlagen wurden, lachten sie, und der Rektor hatte gesagt: Sie müssen gebrochen werden. Später waren Hewel und Born verschwunden, und er nahm an, daß sie gebrochen worden und in Vohwinkels Weinstube den Kinderfressern, den Knochenknackern serviert worden waren, die viel, viel Geld dafür zahlten. Albert hatte es ihm später erklärt, aber es blieb rätselhaft genug, und der Bunker blieb geheimnisvoll, fensterloser Betonklotz zwischen Schrebergärten, in dem Hewel und Born gewohnt hatten. Gebrochen waren sie worden, spurlos verschwunden in der Anstalt, wie Albert sagte.
Albert kam nicht, und Albert würde nie kommen, er hielt mit halb
geschlossenen Augen die aus der Stadt heranfahrenden Autos im Auge, und Alberts Wagen war nicht dabei, nirgendwo der mausgraue, breite alte Mercedes, der unverkennbar war. Es gab nicht viele
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