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Haus Ohne Hüter

Haus Ohne Hüter

Titel: Haus Ohne Hüter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böl
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Bitte, nicht mit der aufgetragenen Buße, jeden Tag drei Vaterunser und drei Ave zu beten, um das Wort aus sich herauszuwaschen. Auf der Mauer sitzend, betete Martin sie, drei Vaterunser, drei Ave Maria. Er achtete nicht mehr auf die Autos, mochte der Mercedes vorbeifahren. Er betete langsam, die Augen halb geschlossen und dachte dabei an die Mühlsteine. Mühlstein um Leos Hals gebunden, und Leo sank, sank bis auf den Boden des Meeres, durch blaue, durch grüne Finsternis Ȭ an seltsamen, immer seltsamer werdenden Fischen vorbei. Schiffswracks, Algen, Schlick, Ungeheuer des Meeres Ȭ und Leo sank, vom Gewicht des Mühlsteins gezogen. Nicht Brielachs Mutter hatte den Mühlstein am Hals, sondern Leo, Leo, der Wilma quälte, sie mit der Knipszange bedrohte, sie mit der langen Nagelfeile auf die Finger schlug. Leo, in dessen Mund das Wort so genau hineinpaßte.
    Er betete das letzte Vaterunser, das letzte Ave Maria, stand auf und ging ins
    Atrium hinein. Er erschrak, die Bummlerin stand da
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    und verhandelte mit dem Portier. Der Portier sagte: »Gleich, gleich, mein Kind, noch ein paar Minuten, dann geht ȇ s los. Kommst du aus der Schule?« Und aus dem Munde der Bummlerin die klare, helle, wunderbar anzuhörende Lüge: »Ja.« »Mußt du nicht nach Hause?« »Nein, meine Mutter geht arbeiten.« »Und dein Vater?« »Mein Vater ist gefallen.« »Zeig deine Karte.«
    Sie zeigte sie, grünlicher Papierfetzen und das Jugendfrei quer über dem lila
    Bauch der Frau draußen auf dem Plakat. Die Bummlerin verschwand, und Martin trat näher. Schüchtern blieb er vor der Kasse stehen. Eine dunkelhaarige Frau saß dort im Glaskasten und las. Die Frau blickte auf, lächelte ihm zu, aber er lächelte nicht zurück. Ihr Lächeln gefiel ihm nicht, irgend etwas in ihrem Blick mußte mit dem Wort zusammenhängen, das Brielachs Mutter zum Bäcker gesagt hatte. Die Frau senkte ihren Blick auf das Buch, und er betrachtete aufmerksam ihren blendendweißen Scheitel, das bläulich schimmernde Haar, und wieder blickte sie auf, schob die Glasklappe zurück und fragte: »Willst du was?«
    »Fängt ȇ s schon an?« fragte er leise.
    »Um zwei«, sagte sie, sie sah auf die Uhr, die hinter ihr an der Wand hing, »in fünf Minuten. Willst du rein?« »Ja«, sagte er, und im gleichen Augenblick fiel ihm ein, daß er Brielach für Montag zu diesem Film eingeladen hatte. Die Frau lächelte, zupfte an der grünen, an der gelben, an der blauen Rolle mit Eintrittskarten und fragte: »Welchen Platz?« Er zog den Reißverschluß zurück, der oben quer über den Träger seiner Hose genäht war, suchte Geld heraus und sagte: »1,10«, und ihm fiel ein, daß es gut sein würde, Albert warten zu lassen, daß es gut sein würde, allein im Dunkeln zu sitzen und daß er mit Brielach am Montag in einen anderen Film würde gehen können.
    Die Frau riß eine Eintrittskarte von der gelben Rolle ab und schob das Geld
    zu sich herüber. Der Portier erwartete ihn mit strengem Blick. »Und du«, sagte er, »warst du schon in der Schule?« »Ja«, sagte er, und er fügte gleich, um die zweite und dritte Frage
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    zu überspringen, hinzu: »Meine Mutter ist verreist, und mein Vater ist
    gefallen.«
    Der Portier sagte nichts mehr, riß das gelbe Schnipsel von der Karte ab, gab ihm den Rest und ließ ihn ein. Und als er hinter dem dicken, grünen Vorhang stand, fiel ihm ein, wie dumm der Portier war: Wußte er nicht, daß Jungen und Mädchen getrennt Schule hatten, daß er und die Bummlerin also nicht zusammen aus der Schule kommen konnten?
    Es war ganz dunkel. Das Mädchen, das die Karten kontrollierte, nahm ihn an
    der Hand und führte ihn in die Mitte des Kinos. Die Hand des Mädchens war kühl und leicht, und er konnte jetzt besser sehen und stellte fest, daß das Kino fast leer war, ganz hinten saßen ein paar Leute, und vorne saßen ein paar Leute, und in der Mitte war alles leer: Dort saß er allein. Die Bummlerin saß vorne zwischen zwei jungen Männern, ihr Kopf, schwarze Silhouette mit wirrem Haar, reichte gerade über die Stuhllehne. Er betrachtete aufmerksam eine Reklame für Schuhcreme: Zwerge fuhren mit Schlittschuhen über die spiegelblanken Schuhe eines Riesen. Sie hatten Hockeyschläger in der Hand, die aber unten kein Querholz hatten, sondern eine Bürste, und die Schuhe des Riesen wurden blanker, blanker, und eine Stimme sagte: Solche blanken Schuhe hätte Gulliver gehabt, hätte er Blank benutzt.
    Ein anderer Reklamefilm lief an: Frauen spielten

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