Haus Ohne Hüter
Möglichkeiten: Zu Brielach zu gehen, hatte er keine Lust. Dort war jetzt Onkel Leo, der erst um drei Uhr auf Schicht ging. Bolda schrubbte die Kirche, es gab die Möglichkeit, zu ihr zu gehen, in der Sakristei eines ihrer Butterbrote zu essen und heiße Bouillon aus der Thermosflasche dazu zu trinken.
Er sah einer hoffnungslosen Bummlerin zu, die jetzt erst die Allee heraufkam
und sich nicht im geringsten beeilte. Er kannte diesen Zustand, es war gleichgültig, ob man zwanzig oder fünf Ȭ
undzwanzig Minuten zu spät kam. Das Mädchen betrachtete mit großem
Interesse die ersten Blätter, die von den Bäumen gefallen waren, sammelte sie zu einem Strauß, große, noch fast ganz grüne, nur leicht gelblich gefärbte Blätter. Jetzt überquerte sie ruhig die Straße, den Blätterstrauß in der Hand. Diese Bummlerin war eine neue. Sie hatte dunkles, wirres Haar, und er bewunderte die Ruhe, mit der sie nun am Atrium stehenblieb, um die Kinoplakate zu betrachten. Er rückte auf der Mauer näher zum Atrium hin, das neben der Tankstelle lag. Die Plakate kannte er schon, er hatte sie mit Brielach zusammen betrachtet, und sie hatten beschlossen, am Montag ins Kino zu gehen.
Zwischen zwei grünen Pappeln war auf dem Plakat das bronzene Tor eines
Schloßparks zu sehen; die eine Hälfte des Tors war geöffnet, und in dieser Öffnung stand eine Frau im lila Kleid, oben am Hals hatte das Kleid eine breite Goldborte, die den Hals wie ein Kragen umschloß. Die Frau blickte mit weitaufgerissenen Augen auf den, der gerade das Plakat betrachtete, und quer über ihren lila Bauch war der weiße Streifen geklebt Jugendfrei — und oben in dem hellblauen Himmel über dem Schloß im Hintergrund stand der Titel: Gefangene des Herzens. Er mochte die Filme nicht gern, wo nur Frauen auf den Plakaten waren. Frauen in hochgeschlossenen Kleidern auf den Plakaten, die den weißen Streifen trugen Jugendfrei, kündigten Langeweile an, während Frauen mit offenen Kleidern auf den Plakaten, die den roten Streifen trugen Jugendverbot, Unmoralisch versprachen, aber er hatte weder Lust auf Unmoralisch noch Lust auf Langeweile, und die besten Filme blieben die Cowboyfilme und die Trickfilme.
Für die nächste Woche war ein unmoralischer Film angekündigt. Das Plakat
hing neben dem Plakat des jugendfreien Films: Frau, deren Brust zu sehen, von Mann, dessen Schlips verrutscht war, umarmt. Der Schlips des Mannes war arg verrutscht, und es sah wüst aus, sah nach dem Wort aus, das Brielachs Mutter zum Bäcker gesagt hatte Ȭ er hatte das Wort gehört, als er mit Brielach und Wilma hingegangen war, um Brielachs Mutter abzuholen. Süß roch es dort unten und warm. Es lagen Stapel frischgebackener, Wärme ausströmender Brote auf den hölzernen Regalen, und er liebte das Mampfen der Knetmaschine und die große Sahnespritze, mit der der Bäcker auf die
Namenstag.« Flink und sauber und richtig schrieb der Bäcker mit der
Spritze, schneller als andere Leute mit dem Füllfederhalter, und Brielachs Mutter malte mit der Sahnespritze flink und leicht Blumen und Häuser, Qualm aus den Kaminen, und mit dem Schokoladenpinsel malte sie herrliche Sachen. Wenn er mit Brielach hinging, schlichen sie von hinten durch die Einfahrt heran, dort vorbei, wo manchmal die Mehlautos hielten, sie blieben vor der Blechtür stehen, die meist nur angelehnt war, schlossen die Augen und nahmen warmen, süßen Duft in sich auf. Dann öffneten sie die Tür leise, stürzten plötzlich hinein und schrien: »Bäh« Ȭ und dieses Spiel erheiterte Wilma, die vor Freude schrie, erheiterte auch den Bäcker und Brielachs Mutter. Dort hatten sie auch vor einer Woche gestanden, und innerhalb der drei Sekunden, die sie warteten, ehe sie die Tür aufstießen Ȭ plötzlich Ȭ , in die Stille hinein, hatten sie gehört, wie Brielachs Mutter drinnen sagte:
»ich lasse mich nicht...« Wort. Er wurde rot, wie er jetzt daran dachte, und
war zu bange, das Wort richtig zu denken. Und der Bäcker sagte ruhig und traurig: »Das darfst du nicht sagen, nein, nein...«
Wilma hatte sie im Dunkeln angestoßen, sie aufgefordert, das Bäh Ȭ Spiel zu beginnen, aber sie waren beide geschlagen gewesen, wie umgehauen, während drinnen der Bäcker Unverständliches vor sich hinstammelte, dunkles Zeug, das sich beunruhigend anhörte, wild und doch demütig, und dazwischen das helle Lachen von Brielachs Mutter, und er hatte daran gedacht, was Onkel Albert von der Sehnsucht der Männer gesagt hatte, sich mit den
Weitere Kostenlose Bücher