Hausers Zimmer - Roman
Der Ernst des Lebens gerade von ihrem Vater geschenkt bekommen.
Später lag ich im Bett und dachte über die Amerikaner und die Russen nach. Dann stand ich auf und guckte mir auf meinem Globus an, wie weit es genau von Berlin nach Moskau und nach New York war. Wenn es einen Atomkrieg gab, lagen wir hier schön in der Mitte. Vor meinem inneren Auge sah ich einen riesigen gelbweißen Atompilz genau über der Gedächtniskirche. Dann schmolzen alle Häuser in Sekundenschnelle zusammen, eine Spielzeugstadt, ein Spielzeugland, eine Spielzeugwelt. Aus Legosteinen. Nur noch kreisende, kalte Kugeln im All. Minimal Art pur. Ich bekam große Angst. Im Hintergrund hörte ich dumpfe Bassklänge. Wenn wirklich die Sirenen alle heulen würden, würde Falk bestimmt nichts davon mitkriegen und nach dem Atomkrieg auf seinem Hochbett wie eh und je aufwachen, vielleicht als letzter Überlebende r … Und vielleicht wäre ich mit dem Hauser dann ja schon auf einer einsamen versteppten Hochebene Patagonien s – da, wo kein Leben mehr ist, kann man auch keines mehr killen. Nicht: Mach kaputt, was dich kaputtmacht , sondern: Such die kaputten Orte, nur da bist du sicher oder schlicht: Hau ab . Ich klammerte mich an meinen Stoffhasen. Nicht, dass ich noch so wurde wie Herrn Hülsenbecks Patienten.
Am nächsten Tag schickte mich Wiebke mit ein paar Sachen, darunter einem Glas Quittengelee von Oma Helene, zu Erwin und Karl. Wenn Oma Helene wüsste, wo ihre Geleegläser meistens endeten. Ich hatte Glück, Erwin, der mir letztes Mal so eine interessante Antwort auf meine Frage gegeben hatte, war da.
Ich wurde ganz aufgeregt. Von weitem hörte ich schon The Cure . Falk hatte den beiden ein paar überspielte Kassetten geschenkt. Jetzt klang es von der Butze auf dem Parkplatz her immer wie bei meinem Bruder auf dem Hochbett.
Was für eine Frage konnte ich stellen, die nicht dumm klang? Ich lief an den VW -Passats und unserem Scirocco, an Volvos und alten Daimlern, Käfern und Enten vorbei, dann stand ich vor der versifften Matratze mit dem Stereotower, der heute womöglich noch einsturzgefährdeter aussah als sonst.
Schnell packte ich meine Mitbringsel vor Erwin aus. Erwin fragte mich, wie es in der Schule gewesen sei. Ich stöhnte und sagte, dass ich wie meine Eltern für zensurenfreie Bildungsstätten sei. Erwin nickte beeindruckt (ich hatte mir die wohlklingende Formulierung von Klaus gemerkt): »Da wär ick früher ooch füa jewesen. Dit jibt ja volle Sadisten unta den Lehran. Ick hatte so richtije alte SS -Lehra, echte Scheiße, weeßte.«
Interessiert nickte ich. Erwin lächelte mich freundlich an, fuhr sich über seinen Bart. Schließlich nahm ich meinen Mut zusammen: »Sagen Sie mal, was denken Sie denn so über den Angriff von Israel auf den Libanon? Die ganzen Konflikte auf der Welt? Die Kurdenfrage zum Beispiel?«
»Wat ick denn so denk’?« Erwin zuckte die Schultern. Dann wälzte er sich auf seine Matratze und fuhrwerkte hinter sich in einem Haufen alter Zeitungen von Klaus, Anna und Frau Hülsenbeck herum.
»Da stand jrad wat im Tajesspiejel drinne, gloob ic k … weeß ick nich.«
»Haben Sie denn keine Meinung dazu?«
»Ach, weeßte. Dit is für mich da unten allet eene Soße. Türken, Kurden, Juden, Araba, Ägypta, Moslems, Persa, Sun n … Su m … Sumerer und Schiete n – die ham doch alle’n Rad ab. Weeßte. Stech’n sich da jejenseitich ab. Wenn de meene Meinung wissen willst: Mit Leuten von da unten würd ick meen Bier nich teil’n. Is mir ejal, ob Türke oda Kurd e – ick mag die alle nich, is ’ne andere Sorte Mensch da unten, Hitzköppe sind dit alle. Hitzköppe.«
Ich schaute Erwin betreten an. Da hatte er ja ausgerechnet mit Oma Helene, die immer von »Negern« sprach, etwas gemeinsam.
»Aha«, sagte ich nur, packte meinen Leinenbeutel ei n – und Erwin winkte mir freundlich zum Abschied. »Danke, Kleene! Machs jut! Und bleeb so wie de bist!«
Wenn Wiebke und Klaus das wüssten. Dass sie hier seit Jahren einen Rassisten durchfütterten und mit Markenkleidung ausstatteten.
Als ich später Wiebke von meinem Dialog mit Erwin erzählte, war sie viel weniger erstaunt, als ich vermutet hatte. Ich sah an ihrer gerunzelten Stirn, dass sie keine Lust auf diese Information hatte, dass ihr das Gespräch und die Konsequenz, die man möglicherweise daraus ziehen müsste, schlicht nicht passten.
Mit angestrengter Miene sortierte sie einen Stapel dänischer Bücher. »Das bedeutet noch lange nicht, dass du von
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