Hausers Zimmer - Roman
Dalí denken, die Uhren, die die Zeit verflüssigten und auflösten. Ich versuchte, nicht mit den Lidern zu schlagen, bis ich anfing doppelt zu sehen, bis ich mehrere Uhren sah und die geschwungenen Farbbalken vor meinen Augen auf- und abflimmerten.
Einen Tag später fand die autonome Anti-Reagan-Demo statt, auf die Falk mit Christian und dessen Kumpels ging. Morgens versuchte Falk noch auf Klaus einzuwirken, er solle doch mitkommen. Natürlich war die Frage eine Provokation. Klaus würde niemals auf eine seit Tagen in der Presse diskutierte, verbotene autonome Demo gehen.
Später, beim Abendbrot, erzählte Falk, was wir verpasst hatten: Er war auf dem Nolli, so nannte er den Nollendorfplatz, eingekesselt worden. Dort hatte er, wie er mit bedeutsamem Blick zu mir erzählte, den Hauser gesehen, der im Hawaiihemd auf die autonome Demo gegangen oder vielleicht eher geraten war: »Mir war nicht klar, ob der Hauser als echter Demonstrant oder als Schaulustiger in den Kessel gekommen ist. Jedenfalls hat er ziemlich herumgenölt, er wolle nach Hause, er hätte keinen Bock mehr und so. Ein paar Leute haben ihm gesagt, dass er hier nicht hinpasst und dass das keine Spaß-Demo ist. Dann hat er sich mit denen angeleg t – und irgendwann ist er von den Bullen abgeführt worden.« Die vom Nollendorfplatz abgehenden Straßen hatte die Polizei verbarrikadiert, Falk gehörte zu den fünftausend Menschen, die eingekesselt wurden. Doch er konnte der Massenfestnahme auf dem abgeriegelten Nollendorfplat z – die polizeiinterne Bezeichnung dafür war Aktion Eisenbart , wie wir später erfuhre n – durch irgendeinen seiner Falkschen Tricks, vermutlich der Tarnung als Unschuldslamm, entgehen.
Am Abend rief Oma Helene an, und ich erzählte ihr brühwarm, dass Falk auf der Demo gewesen sei. Sie war deshalb wütend auf uns alle. Sie verlangte, ich solle umgehend Wiebke ans Telefon holen. Später erzählte Wiebke mir, dass ihre Mutter zur ihr gesagt habe: »Wenn ihr jetzt russisch wärt, dürftet ihr gar nicht demonstrieren.«
Die Reagan-Demo führte aber nicht nur in meiner Familie zu heftigen Diskussionen. Als Isa und ich an einem der nächsten Tage nach der Schule auf dem Balkon saßen und uns Lederarmbänder flochten, regte sich Frau Hülsenbeck darüber auf, dass Isa gern mit mir auf die »bürgerliche« Anti-Reagan-Demo gegangen wäre. Nur weil an dem Tag ein Tierarztbesuch anstand, war Isa nicht mitgekommen.
»Diese süddeutschen Jugendlichen, die keine Lust auf Wehrdienst haben und deshalb in Scharen nach Berlin auswandern, zetteln diese antiamerikanische Stimmung hier an«, behauptete Frau Hülsenbeck, während sie uns Multivitaminsaft einschenkte. »Erst landen sie bei mir vor Gericht, dann bei Isas Vater auf der Pritsche.« Sie sagte tatsächlich »Pritsche«, nicht »Couch«. »Die haben keine Ahnung von dieser Stadt, diese Zugezogene n … Ich wünschte, man würde die alle mal in die russische Provinz verschicken. Hinter den Ural. Nach Sibirien. Diese Zugezogene n …«
»Das nervt langsam, Mutti«, sagte Isa. »Du immer mit deinen Russe n – der Feind meines Feindes ist mein Freund, das ist deine Logik. Nur weil die Amerikaner gegen die Russen sind, sind sie unfehlbar. Du würdest für jeden sein, der gegen die Russen ist.«
»Was fällt dir ein? Wie redest du mit mir? Welche Lebenserfahrung hast du neunmalkluges Mädchen denn schon damit gemacht? Ich bin als Kind vor geflohen, in einem Alter, in dem du noch mit Jule zusammen im Sandkasten gespielt hast.«
Frau Hülsenbeck schlug zur Bekräftigung ihrer Worte mit einem Kaffeelöffel auf die Balkontischplatte.
Isa rollte mit den Augen. »Nur weil ich damals nicht gelebt habe, kann es nicht sein, dass ich heute zu nichts eine Meinung haben darf!«
»Vielleicht nicht zu solch einem Thema!«
»Ich werde fünfzehn, und meine Mutter schreibt mir immer noch vor, zu welchen Themen ich eine Meinung haben darf und zu welchen nich t … Ich dachte, die Amerikaner lieben die Freiheit über alles!«
So hatte ich Isa noch nie mit ihrer Mutter reden hören. Sie hatte mit ruhiger Stimme gesprochen, als hätte sie über die Dinge, die sie gesagt hatte, schon lange nachgedacht.
»Wenn du so redest, Isa, muss ich Angst bekommen, dass du auch noch straffällig werden wirst.«
Frau Hülsenbeck zog sich vom Balkon zurück. Isa lief ebenfalls in die Wohnung, aber in eine andere Richtung. Zwei Minuten später hörte ich Immer frei, ich bin auch mit dabei . Isa hatte die Ideal -Platte
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