Hausers Zimmer - Roman
nun an keine Sachen mehr zu Karl und Erwin bringen musst«, meinte sie dann.
»Aha«, machte ich wieder. »Und wenn ich keine Lust mehr dazu habe? Letztens hast du mir sogar übrig gebliebenes Essen von Sena für die beiden mitgegeben. Erinnerst du dich? Die gefüllten Weinblätter. Von einer bösen türkischen Familie! Von den Hitzköppen!«
»Wenn er so redet, braucht er unsere Hilfe erst recht«, schloss Wiebke das Gespräch und schlug eines der neu eingetroffenen dänischen Jugendbücher auf.
In den Nachrichten sah man Hunderttausende aufgebrachte Amerikaner in Washingto n – sie demonstrierten gegen Atomwaffen. Es war die bisher größte Kundgebung in der Geschichte der USA . Sie reckten ihre Plakate und Transparente in die Luft und sahen doch vor dem Weißen Haus, so Falk, »klein wie Ameisen« aus. Dunkles Gewimmel. Das letzte Bild war die strahlend helle Kuppel im Sonnenlicht. Ungebrochene Mach t – dachte ich.
Später sahen wir alle, nicht zum ersten Mal in diesem Juni, einen Fassbinderfilm, Angst essen Seele auf . Obwohl sie über die traurige Liebesgeschichte zwischen der Putzfrau und dem jungen Marokkaner weinen musste, erwähnte Wiebke Erwins Äußerungen mit keinem Wort mehr.
Das Lochow – Warum in die Ferne schweifen, sprach der Fuchs
In den nächsten Tagen beherrschten zwei Themen die Schlagzeilen: Die WM fing an, und der Falklandkrieg wurde gerade durch das militärisch überlegene Großbritannien beendet. Es fehlte eigentlich nur noch eine Meldung zu Knautschke. Sicher würde man nicht lange darauf warten müssen. Obwohl die Medien sich noch eine Weile mit dem Falklandkrieg beschäftigten, wurde dieser bald von den WM -Nachrichten verdrängt. Zum Glück gab es kein Spiel England–Argentinien. Argentinien trat als Weltmeister der vorherigen WM an, England scheiterte schon in der zweiten Gruppenphase, obwohl die Mannschaft kein Spiel verloren hatte. Während der Spiele kam es in England wiederholt zu Krawallen.
An einem besonders heißen Juninachmittag wollten Fiona, Isa und ich nach der Schule ins Lochow fahren. Dort saß nämlich immer ein langhaariger Typ, ein Yogalehrer, der Fiona gefiel, und spielte Gitarre. Die Männer, die ihr gefielen, sahen dem Ekel ähnlich, hatte ich schon manchmal gedacht, mich aber nicht getraut, ihr das zu sagen. Vor dem Lochow-Yogalehrer war es unser Musiklehrer, Herr Dolle, gewesen, für den sie schwärmte. Bis Herr Dolle wegen einer neuen Flamme die Schule wechselte und nach Hamburg zog. Heute hatte Fiona wegen des geplanten Lochow-Besuchs sogar ihre Therapiestunde abgesagt.
Wiebke war beruhigt, dass ich nicht allein ins Lochow fuhr.
»Passt gut auf euch auf«, sagte sie mir noch mit eindringlichen Blick. »Du weißt ja, das Lochow is t … na ja«, sie rang nach Worten, »das Lochow ist eben das Lochow.«
Wiebke machte sich immer Sorgen um uns, dabei ging sie selber gern ins Lochow. Es erübrigt sich wohl zu erwähnen, dass Klaus das Lochow nach einem einzigen Besuch, der vor unserer Zeit lag, nie wieder betreten hat. Es war ihm zu dreckig, überhaupt hasste er Schwimmbäder mit ihrem Gedränge und Gewusel und der ganzen Körperlichkeit, den vielen, wenig ansehnlichen Menschen. Wiebke hingegen kraulte dort oft morgens, und ich hatte sie schon manchmal bewundert, wie sie Leuten die Meinung sagte, wenn sie direkt vor ihr ins Wasser köpperten oder versuchten, ihr Handtuch zu klaue n – ein Volkssport im Lochow. Wiebke konnte jeden Hünen zur Schnecke machen. Es reichte, dass sie einfach nur »Handtuc h – her!« brüllte und mit Badelatschen schmiss.
Wenn Wiebke vom Lochow kam, grüßte sie mich stets von dem kleinen Fuchs, dem sie Brötchen mitbrachte, die sie wiederum von den Lebensmitteln für Karl und Erwin abzwackte. »Grüße vom kleinen Fuchs«, sagte sie einfach nur und ging bei uns zu Hause noch einmal unter die Dusche, weil die Lochow-Duschen total verchlort waren. Chlor wurde äußerst großzügig von dem kaum sichtbaren Lochow-Personal eingesetzt, als wäre es ein Wundermittel gegen alle dort anzutreffenden Übel: Schmutz, Dreck, Bakterien, Kriminalität, Drogenkonsum, Lüsternheit, Unzucht, Selbstbefriedigung, nächtliche Ruhestörung (das Lochow hatte ewig auf), nimmermüde Ratten.
Wir liebten das Lochow. Es war riesig; zum Lochow gehörten hügelige Wiesen, die nie gemäht wurden, Gebüsch und Unkraut. Zwischen den Sträuchern hatten Fiona, Isa und ich schon ein paar Mal Spritzen gefunden. Und der schon erwähnte Fuchs strich auf dem
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