Hausers Zimmer - Roman
sehen. Besonders ärgerte Wiebke Annas Argument, die Israelis würden die Palästinenser (es ging bald gar nicht mehr um den aktuellen Libanonkonflikt) ebenso diskriminieren, wie sie selbst diskriminiert worden seien. »Gibt es ein Auschwitz in Israel? Ein Treblinka?«, brüllte Wiebke. Sie hatte Rech t – der Vergleich war dumm. Aber war der Einmarsch in den Libanon nun zu rechtfertigen oder nicht?
Wenn man in unseren Hof schaute, sah man, dass überall der Fernseher lief. Vielleicht war der Grund dafür eher in den erschütternden Lokalnachrichten als im gesteigerten Interesse am Nahostkonflikt zu finden: Irgendein Idiot hatte ein Stück Holz mit eingeschlagenen Nägeln nach Knautschkes Tochter Bulette geworfen. Lange verbreitete sich ein Zoomitarbeiter im Detail über den Gesundheitszustand der Tiere. Dann wurde ein Flusspferdexperte interviewt. Pechs stellten den Fernseher lauter.
Am heutigen Tag wurde Ronald Reagan in Berlin erwartet. Mit The Wiebkes and the Klauses, Fiona und Anna ging ich am Nachmittag zur großen Anti-Reagan-Demo. Falk hatte keine Lust gehabt, mitzukommen. » Sonne statt Reagan ? Ein bürgerliches Sommerfest? Nein, danke!« Es war plötzlic h – aber nur für wenige Tage, angekündigt war ein neuerlicher Kälteeinbruc h – sehr heiß in Berlin, und ich zog meine abgeschnittenen Cordhosen an. Schon auf dem Weg wurde ich müde und schlapp von der Hitze. Wie immer war ich das »Schlusslicht«. Mir fielen fast die Augen zu. Eine Rattengruppe querte unseren We g – vielleicht auch eine Demo.
Nach einer Weile fiel mir auf, dass Anna und Wiebke nicht über Reagan sprachen, sondern die ganze Zeit über die angedrohte Bebauung der Wiese bei uns und, ein Dauerbrenner, über den Parkplatz mit dem sinnlos errichteten ersten Stock und dessen zukünftiger Nutzung redeten. Links und rechts der Demo liefen Bauchladenverkäufer, und einer machte an diesem Nachmittag ein Riesengeschäft: Er verkaufte fluoreszierende Bänder, eine Traube von Menschen folgte ihm auf Schritt und Tritt. Schon sah man einige Demoteilnehmer mit den schicken neuen Bändern ums Hand- oder Fußgelenk gewickelt, einer mit Glatze und Fünftagebart trug es als Stirnband. Auch die Eis- und Getränkeverkäufer müssen gut verdient haben. Ich begann zu maulen, warum man mich hier auf diesen Stadtspaziergang mitgeschleppt habe. Wiebke zwickte mich in den Oberarm: »Du kannst noch den ganzen Abend Schach spielen oder sonst etwas mache n … Außerdem war es deine freie Entscheidung.«
Dann sprach sie mit Anna darüber, ob man nicht einen »Wildkräutergarten« anlegen oder gar einen kleinen Bauernhof (frische Eier, Ziegenmilch!) auf unserem Hof einrichten könn e – die schönen Brüste von Herrn Kanz könnten ja bleiben, sie böten sich als Sitzflächen an, was bei der Gartenarbeit praktisch sein könne, aber das Gerümpel vom Olk und diesem Hauser, der das ja doch nur alles zusammenstehle und verhökere, wolle man endlich loswerden. Ich war mir sicher, auch in zwanzig Jahren würden sie sich noch über diese Idee unterhalten. Unsere Mülltonnen würden dann schon längst vor der Tür stehen, weil auf dem Hof kein Platz mehr war.
Wegen der Hitze gaben Wiebke und Klaus mir großzügig Geld für Getränke und Eis, und so verbrachte ich die Anti-Reagan-Demo damit, immer vor und zurück zu sprinten, um einen der Bauchladenverkäufer zu erwischen.
Der Abend brachte eine weitere schlechte Nachricht. Fassbinder war im Alter von nur siebenunddreißig Jahren an einer Mischung aus Kokain, Schlafmitteln und Alkohol gestorben. Wiebke und Klaus waren sehr betroffen. Der Regisseur von Filmen wie Deutschland im Herbst, In einem Jahr mit 13 Monden, Angst essen Seele auf oder Liebe ist kälter als der Tod war verstummt. Wiebke erzählte, dass sie Die Sehnsucht der Veronika Voss erst im Februar auf der Berlinale gesehen habe.
Ich hatte das Gefühl, dass sich Wiebke und Klaus nach diesem erneuten Tod eines geistigen Vorbilds ein wenig verwaist vorkamen. Was war das für ein Jahr, in dem so viel zu Ende ging, so viel nicht geschah, so viel in der Schwebe blieb. Ich schaute auf die bunte Sechzigerjahrewanduhr, die Klaus von Erwin als Dank für einen besonders schönen abgelegten Anzug geschenkt bekommen hatt e – ein riesiges Ding mit geschwungenen Linien in Lila-Grün-Orange, das bei uns in der Küche, als hätte es keine Lust, seiner Funktion nachzugehen, ein wenig schief über der Anrichte thronte. Für einen Moment musste ich an die Uhren von
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