Hausers Zimmer - Roman
unternommen, womit sich die Lehrer bei den Schülern einschleimen wollten (zum Beispiel mit einem Besuch des Wachsfigurenkabinetts) oder etwas »Lehrreiches«. Die »lehrreichen« Ausflüge endeten natürlich nicht mit dem Klingelzeichen, ihre Länge oblag reiner Lehrerwillkür. So ein Wandertag konnte sich hinziehen.
Während Frau Schwundtke noch über den Sinn und Nutzen des Wandertags schwadronierte, überlegte ich, was sie mit uns vorhaben könnte. Hoffentlich ging es nicht in die Amerika-Gedenkbibliothek oder ins Museum für Verkehr und Technik. Oder wieder auf die Pfaueninsel. Letztes Mal war eine Fähre ausgefallen, und der ganze unerfreuliche Wandertag hatte kein Ende genommen.
Endlich kam Frau Schwundtke zu Potte: Übermorgen würden wir nach Ost-Berlin fahren. Das war eine interessante Überraschung. Ich war zwar ein paar Mal in Ost-Berlin gewesen, aber das war eine Weile her, außerdem hatten wir die meiste Zeit in öden Cafés herumgesessen, und The Wiebkes and the Klauses quasselten mit ihren Freunden über neue wilde Kunst. Für einen Tag Ost-Berlin nahm ich auch acht Stunden Melanie in Kauf. Nun nervte Frau Schwundtke noch damit, dass wir unsere Pässe auf keinen Fall vergessen dürften und dass wir alle ganz pünktlich am Zoo sein müssten. Länger als eine Viertelstunde warte sie nicht.
In der nächsten Stunde, in Geschichte, wurde ich aufgerufen und sollte mal eben das Ende des Zweiten Weltkriegs herunterbete n – eine typische Überraschungsattacke auf den müden Kopf. Aber nachdem ich mich aufgerafft hatte, fand ich kein Ende für dieses Ende: Ich kam von der Kapitulation am 8 . Mai ’45 zu den beiden Atombombenabwürfen, zum Potsdamer Abkommen, zum Marshallplan und zu den Kriegsverbrecherprozessen, zur Berlin-Blockade, zur Kubakrise und zum Mauerba u – während ich redete und redete, hatte ich das Gefühl, der Krieg hätte gar nicht geendet. Nicht einmal die Einschusslöcher neben dem Klingelbrett an unserem Haus waren verschwunden.
Herr Kurzke, der mich erst hatte ärgern wollen, war nun überfordert von meinem Redeschwall. »Das ist ja wie bei Goethe mit diesen kleinen Besen, die immer mehr Wasser holen!«, rief er und würgte mich ab.
Zum Wandertag hatte Wiebke zwei Riesenstullen mit Scheiblettenkäse für mich vorbereitet. Sie glaubte wohl, dass ich in der DDR nichts zu essen finden würde. Scheußlicheres als Scheibletten konnte es im Osten auch nicht geben. Ich warf die Stullen wieder einmal in die Mülltonne.
Isa kam heute nicht mit, sie habe sehr schlecht geschlafen, erzählte sie mir in der Tür. Und schon schrieb ihre Mutter ihr wegen »Krankheit« eine Entschuldigung. Krank war lediglich Isas Kaninchen Es hatte seit drei Tagen nichts mehr gegessen und schiss nur grüne Pfützen. Da war Isa ausnahmsweise gestern Nacht schlaflos.
Fiona und ich trabten zum Zoo, gingen am Beate-Uhse -Shop und an nach altem Fett riechenden Pommereien (so nannte Oma Helene Pommesbuden) vorbei. Es regnete. Am Zoo saßen Pepita und Sena schon auf einer Bank, sie waren immer die Ersten. Frau Schwundtke hatte sich den hübschesten Ort als Treffpunkt ausgesucht, die Gepäckaufbewahrung, ein nach Pisse riechender, düsterer Abschnitt der Halle, in dem mit Schmetterlingsmessern spielende Typen herumstanden. Einer von ihnen rief Sena etwas zu, die sofort entschieden den Kopf schüttelte und sich wieder in ihr Gespräch mit Pepita vertiefte.
Fiona blieb nicht lange neben mir stehen, sie begann ein Gespräch mit Larissa. Ich stand allein herum und beobachtete, wie die Kerle ihre Kreise zogen. Da kam Steffen. Er trug wie üblich eine altmodisch aussehende graue Hose, ein hellblaues Hemd und das graue Jackett, das er von seinem Großvater geerbt hatte. Manchmal sah er wirklich aus wie aus einer anderen Zeit. Aber ich galt ja mit meinen Trödelmarktklamotten in meiner Klasse auch als unmodisch, um nicht zu sagen als merkwürdig. Auf den Klassenbildern stand ich immer in Schwarz, Braun oder Olivgrün zwischen all den Neonbabys.
Seit Isa behauptet hatte, sie sei sich atombombensicher, dass Steffen »total auf mich abfahren« würde, fühlte ich mich in seiner Gegenwart auf einmal unbehaglich. Steffen näherte sich unserer Gruppe, aber er schaute nicht auf die anderen Leute, nicht auf die breitbeinig, mit gesenktem Kopf dastehenden Typen, die mich an Stiere in einer Arena erinnerten, nicht auf das Grüppchen unserer Klassenkameraden, das gerade angeregt über Turnschuhe redete, sondern nur auf mich. In dem
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