Hausers Zimmer - Roman
Straßen liefen, blickte ich mich neugierig um. Es war so leer hier, und es gab kaum Reklameschilder. Das war mir schon damals bei dem Besuch mit Wiebke und Klaus aufgefallen. Zum Beispiel dieser Käseladen zu meiner Linken hatte nur ein kleines Plastikschild Käsesorten an die Tür gehängt. Über dem Laden war eine altdeutsche Schrift erkennbar, Schuhmacher Leidel . Und wenn man in den Laden schaute, sah man eine fast leere Theke. Es gab nur drei verschiedene Käsesorten, runde, dreieckige, quadratische Stücke. Kein Brie, kein Walnuss-, kein Champignonkäse. Als wir einige weitere Geschäfte passiert hatten, rief Melanie: »Finster ist das hier!«, und Larissa schloss sich an: »Ich weiß echt nicht, wo ich mein Geld lassen soll.«
»Meine Mutter sagt, die Cola schmeckt eklig.« Das war Rolf. Larissa hakte sich bei ihm ein und lächelte ihn an. Steffen warf mir einen ironisch-amüsierten Blick zu.
Während wir weiterliefen, hielt Frau Schwundtke Reden über die Entstehungsgeschichte der DDR und der Bundesrepublik. Als ich mir eines der blassen Verkehrsschilder von nahem anschauen wollte, zog mich Frau Schwundtke am Ärmel meiner Jeansjacke weg, damit ich ihrem Vortrag lauschte. Während sie uns über den Marshall-Plan belehrte, reifte in mir ein Plan: Ich würde mich von dieser bescheuerten Gruppe wegstehlen.
»Falls wir uns aus irgendeinem Grund verlieren sollten, treffen wir uns um fünf Uhr am Grenzübergang Friedrichstraße!«, rief Frau Schwundtke.
Das war das Stichwort, der Freibrief. Schon lief ich als Schlusslicht meiner Klasse, sah, wie sie in die nächste Straße einbogen, und blieb allein zurück. Erleichtert lief ich den gleichen Weg wieder zurück. Endlich hatte ich Zeit, mir die Geschäfte und ihre Inhaber in Ruhe anzugucken. Als ich an eine Imbissbude kam, beschloss ich, trotz der Warnung von Rolfs Mutter, eine Ost-Cola zu probieren. Die Frau in der Bude sah aus wie Wiebke vor zehn Jahren, Krissellocken, braun-orange gestreifte Bluse mit riesigem Kragen. Überhaupt hatte ich das Gefühl, als sei hier die Zeit stehengeblieben. So viele Einschusslöcher sah man mittlerweile bei uns in West-Berlin nicht mehr, auch wenn unser Haus einige aufwies. Die Imbisstante war freundlich und berlinerte heftig, was in dieser fremdartigen Umgebung merkwürdig vertraut klang. »Na, Kleene « – das hätte auch von Erwin oder Karl sein können. Die Cola schmeckt e – ich würde gar nicht sagen scheußlich, sondern einfach nur anders. Ich dachte gerade über den Geschmack nach, da hörte ich ein Schnauben hinter mir. Dann lag eine Hand auf meiner Schulter.
»Julik a …«
Es war Steffen. »Mann, bist ja ganz schön weit gelaufen, Julika.«
Ich nickte stolz: »Bin ausgebüchst!«
»Hab ich schon gemerkt, gute Idee!«
»Eben«, meinte ich, »bestell dir doch auch was.«
Steffen entschied sich für eine Bockwurst und einen Pott Kaffee. Traute sich wohl nicht an die Cola. Ein paar Männer mit Wuschelbärten, die wie die Mitglieder einer Provinzrockband aus den frühen Siebzigern aussahen, stellten sich an den Nachbartisch. Sie trugen eng sitzende Jeans und hohe Stiefel.
»Proooost«, rief der eine uns freundlich zu, während ich meine zweite Club-Cola schlürfte. Mir fiel auf, dass die Budentante immer gebückt lief, manchmal verschwand sie kurz unter der Theke. Neugierig beobachtete ich sie. Als sie sich aufrichtete, um einem Kunden Wechselgeld zu geben, sah ich, wie sie ein Buch oder ein Heft schnell weglegte. Ich blickte auf ihre Hände. Was hatte sie da für ein Geheimnis? Ich beugte mich zu Steffen vor und erzählte ihm von meiner Beobachtung.
»Vielleicht kann ich das ja herausfinden, wozu bin ich denn mit fünfzehn eins achtzig groß?«, murmelte er zurück. Nun ging er betont locker los, schlappte zur Theke.
»Haben Sie vielleich t …?« Steffen blickte sich um, tat so, als würde er nachdenken. Jetzt stand er auf den Zehenspitzen, was die Verkäuferin aber nicht sehen konnte, und beugte sich vor, dabei rieb er sich die Stirn, als würde er abwesend grübeln. Am Ende bestellte er noch ein Würstchen. Ich konnte es kaum abwarten, bis er zurückkam. Seine Augen leuchteten, als er sich zu mir an den Stehtisch begab.
»Fromm«, flüsterte er mir zu. »Erich Fromm.«
Ich nickte. »Das ist verboten hier?«, fragte ich.
»Nur weniges, wie Orwells 1984 , ist total verbote n – Hetz- und Schundliteratur nennen die das woh l –, aber Vieles wird doch lieber nicht offen zur Schau gestellt«, flüsterte
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