Hausverbot
von Krawatten an, die ich nebeneinander auf Pappen aufklebte. Ich begründete diese Arbeit damit, dass ich von einer berühmten Danziger Krawattenfamilie abstammte. Damit wurde ich am Lerchenfeld ohne Zucken aufgenommen.
Seit ich dort studierte, musste ich niemals früh aufstehen. Ich legte mich nie ins Bett, bevor es hell wurde. Ich stand meistens nachmittags auf und ging sofort zur Uni. Die Kantine dort war sehr gut, und man konnte sogar, ohne zu bezahlen, essen, indem man sich mit einem gebrauchten Teller einen Nachschlag holte. Die Kantine hatte auch Alkohol im Angebot. Und wenn sie zu war, konnte man vieles, Bier eingeschlossen, in einem der Automaten, die da rumstanden, kaufen.
Einmal die Woche trafen wir uns um vierzehn Uhr mit den Professoren. Parallel dazu führten Gastdozenten in der Abspielstelle experimentelle Filme vor, die man in den Kinos nie zu sehen bekam. Mit gut gefülltem Magen war das schräge Zeug ein wunderbarer Einstieg in den Tag. Ich döste vor mich hin, verarbeitete die vorherige Nacht und sortierte meine Gedanken zur Kunst. Ich positionierte mich darin. Ich schaute mir fast jede Vorführung in der Abspielstelle an, weil ich wild und hungrig war. Vor allem aber war ich ganz am Anfang, und ich wollte alles wissen über die gegenwärtige Kunst. Wie ein Kind verglich ich mich dauernd mit allem. Ich glaubte an alles, was in der Abspielstelle gezeigt wurde, und identifizierte mich damit. Einmal zeigte der Staatsanwalt und Filmjournalist Dietrich Kuhlbrodt einen Super- 8 -Film der Berliner Kunstdilettanten › Die Tödliche Doris‹. Darauf war zu sehen, wie eine Frau in Strumpfhose vor einer gemusterten Tapete hoch und runter sprang. Die meiste Zeit war die Frau außerhalb des Bildes, und man sah nur die Tapete. Kuhlbrodt erklärte, dass dieser Film die moderne Entsprechung eines Tafelbildes sei. Ich fand das auch. Denn warum sollte man Bilder immer nur malen, wenn man sie fortschrittlicher entstehen lassen konnte. Und weil es in der Kunst um nichts anderes als um den Fortschritt ging, war der Tapetenfilm nicht nur ganz schön frech, sondern auch revolutionär. Weil sich die Künstler nicht an die üblichen Filmregeln hielten. Sie erzählten keine Geschichte. Sie verwirrten den Zuschauer. Sie verachteten den Kunstbetrieb. Kuhlbrodt belegte jede seiner Behauptungen mit fundierten Argumenten, die natürlich hanebüchen waren. Diese aber aus dem Mund eines deutschen Staatsanwalts zu hören, verstärkte in mir den Glauben an die Kunst, den Glauben an eine Religion, die jenseits des Materialismus existierte. Diese Erkenntnis bezog ich auf mich selbst. Ich hatte mich nicht aus dem Kommunismus hinaus- und in den Kapitalismus hineinbewegt. Ich war eher auf dem besten Wege, mich aus dem Materialismus mit Hilfe der Freien Kunst herauszulösen. Und wenn es mir jemals gelingen sollte, den geistig immateriellen Zustand zu erreichen, dann würde ich frei und unabhängig werden, wie es mir am Flughafen in Warschau vorgeschwebt hatte. Angeregt durch den Gastvortrag von Kuhlbrodt oder irgendeinem anderen Vogel ging ich voller enthusiastischer Gedanken in die Kantine zurück. Dort diskutierte ich mit den Kommilitonen über das, was ich gerade gesehen hatte, und verabredete mich für den Abend zu einer Vernissage. Das Studieren der Freien Kunst bestand genau aus diesen Elementen: den Filmvorführungen in der Abspielstelle, den Diskussionen mit den Kommilitonen und den Vernissage-Besuchen sowie den gelegentlichen Treffen mit den Profs. Das alles gab Anstoß genug zum selbstständigen Arbeiten. Damit begann man aber erst ab sechs Uhr abends in den gemeinschaftlichen Ateliers. Allerdings war es auch oft so, dass aus einem Kantinendisput eine Zecherei wurde und die vom Alkohol demoralisierten Studenten keinen Bock mehr aufs Kunstmachen hatten. Dann gingen sie schon um sieben Uhr zu Vernissagen, wo der Alkohol bekanntlich kostenlos verabreicht wurde.
Die Ideen für das Kunstschaffen kamen von selbst. Hatte ich Angst vor Hunden, dann malte ich welche. Hatte ich Billard gespielt, dann zeichnete ich Billardtische. Hatte ich Heimweh, dann fotografierte ich den Hamburger Hafen und krickelte in die Fotos die Danziger Werft hinein. Alles war ein Thema und konnte Kunst sein. Es gab keine Strukturen, keine Korsetts, keine Vorgaben, keine Lehrbücher. Ich fand diese Art zu studieren wirklich zeitgemäß. Weil sie meinen Ansichten über moderne Kunst entsprach. Immer nur nach vorne schauen. Man wurde in Hamburg nicht wie an
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