Hausverbot
Abschiedsaktion total irre und gingen erst mal auf einen Drink in die ›Marktstuben‹. Es war noch nicht vier. Wir waren völlig überdreht. Es war irgendwie klar, dass wir heute Nacht alle drei in demselben Bett landen würden. In den ›Marktstuben‹ tranken wir Wodka. Ich knutschte abwechselnd mal mit dem einen, mal mit dem anderen Lover. Viertel vor vier ging die Expedition weiter Richtung ›Kir‹. Fünf vor vier waren wir da, wo auch schon eine Traube anderer Nachttänzer darauf wartete, kostenlos in die beliebte Disco reinzukommen. Wir wollten aber sofort rein. Der Türsteher wollte deswegen kassieren. Weil wir nicht zahlen wollten, sollten wir diese fünf Minuten vor der Tür warten wie die anderen. Wir diskutierten mit dem › Tier von Kir‹, so hieß der Türsteher, der seines bedrohlichen Aussehens wegen schon in ein paar ›Tatort‹-Folgen mitgespielt hatte. Auf einmal packte das › Tier von Kir‹ einen der Lover unter den Achseln und schmiss ihn zu Boden. Daraufhin ging der zweite Lover auf das › Tier von Kir‹ los. Das › Tier von Kir‹ schleuderte auch den zweiten Lover zu Boden. Der erste Lover blutete aus der Nase, der zweite aus dem Mund. Ich agitierte die wartenden Discogeher, sie sollten sich die Bevormundung durch einen Türsteher nicht gefallen lassen und aus Solidarität mit uns den Laden stürmen: Weg mit den Türstehern! Discos gehören uns! Sturm auf ›Kir‹! Kameraden los! L eider reagierte niemand. Wahrscheinlich waren sie bekifft. Als um Punkt vier der kostenlose Einlass begann, mischten wir uns unter das Volk. Das › Tier von Kir‹ erkannte uns in der Menge und erteilte uns allen dreien Hausverbot. Ich sagte: Lasst uns zu mir gehen.
Im Vorwerkstift war die gelbe Tür zu meiner Wohnung mit Brettern zugenagelt. Darauf war mit schwarzer Farbe Apage, Satanas! gesprüht. Eindeutig hatte die Feuerlöscher-Aktion meinen Mitbewohnern missfallen. Da war aber keine Zeit zum Grübeln, weil wir gerade nur eins wollten: Sex miteinander haben. Wir gingen auf die Bude des Lovers, der näher wohnte. Dort poppten wir bis morgens um acht. Als die beiden Männer irgendwann eingeschlafen waren, zog ich mich an und verließ die Wohnung, leise wie ein Dieb. Das war mal wieder einer dieser Augenblicke, wo ich mich so schlecht fühlte, dass es mich an die Bahnhofsbrücke trieb. Warum gab es ständig Ärger, wo ich hinkam, wo ich auftauchte, wo es sich um mich drehte? Ich glaubte nicht an Hexen, an Verschwörung, an Martyrium. Dennoch war eines klar: Meine Person polarisierte. Mein Temperament war anders als das meiner Mitmenschen. Das hing zum Teil mit meiner Herkunft zusammen, mit meiner Mentalität. Mein Wesen konnte aber keineswegs nur durch meine Herkunft erklärt werden. Denn schon in Polen hatte ich oft Ärger gehabt, war ich vielen ein Dorn im Auge gewesen. Ich fühlte mich nicht von dieser Welt. Das zu akzeptieren war nicht einfach. Weil ich immer dazugehören wollte. Ich hatte nie vor, meine Umwelt zu destruieren. Dass sich das immer wieder so ergab, war nicht meine Absicht. Vielleicht studierte ich deswegen auch bei Böhmler. Wegen seiner anarchistischen Einstellung. Wegen seines unangepassten Charakters. Aber woher kam so ein Charakter? Diese Frage beschäftigte mich immer mehr und mehr. Auf alle Fälle sah ich mich nicht als eine außenstehende Ausländerin. Von Anfang an verkehrte ich vor allem mit den Einheimischen. Ich sprach die Landessprache fließend, bereits nach ein paar Monaten. Deutsch zu lernen war meine Religion, hatte Priorität, wurde Prinzip.
Am Montag nach der Weihnachtsfeier im polnischen Klub war mein Onkel wie immer zur Arbeit gegangen. Kaum war er aus der Tür, packte ich alle meine Sachen zusammen und verließ ebenfalls die Wohnung. Auf der Sparkasse tauschte ich die bisher noch nicht angebrochenen einhundertfünfzig Dollar in Deutsche Mark um. Ich ging zum Bahnhof. Ich kaufte ein Ticket nach Friedland. Ich fuhr in das in aller Welt bekannte Aussiedlerübergangslager. Ich stieg auf dem Bahnhof in Friedland aus. Vor mir lag die reinste Walachei. Das Aussiedlerübergangslager breitete sich in Sichtweite aus. Es war ein mit grauen Containern, Bauwagen und Baracken übersätes Gelände. Ich ging rüber. Am kleinen, spitzdachigen Eingangshäuschen hielt ich an. Die darin hockende Person verlangte nach Passport . Sie schrieb meine Personalien ab, gab mir den Pass zurück und händigte mir ein Formular aus. Sie winkte mich in einen zu beiden Seiten mit Spannbändern
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