Hausverbot
mich unter die Menge. Während ich die Handlungen der anderen nachmachte, suchten meine Augen nach einem einigermaßen zeitgemäßen und aufgeweckten Gesicht. Das war wirklich keine leichte Aufgabe, ein solches Gesicht zu finden. Es war wie das Suchen nach der berühmten Nadel im Heuhaufen oder wie das Lösen eines gordischen Knotens oder wie das Teilen einer Wimper in drei Späne. Aber: Es klappte! Unter den dreihundert Fressen entdeckte ich es, das feine Gesicht von Anna, aufgeschlossen und schlau. Anscheinend hatte ich schon wieder Schwein, wie mit Andrzej vor der deutschen Botschaft. Was für ein Glück, verdammt.
Ich sprach Anna an. Sie war nach Deutschland gekommen, um zu studieren, genauso wie ich. Sie hielt sich in Friedland schon den zweiten Tag auf und hatte bereits einen ziemlichen Überblick. Sie klärte mich über die Otto-Benecke-Stiftung auf, die für Aussiedler mit Abitur zuständig war. Die Stiftung übernahm den Lebensunterhalt während des Sprachkurses. Wenn man studierte, zahlte sie einen Lehrmittelzuschuss zum Bafög. Damit ich zum Studieren nach Hamburg gehen konnte, sollte ich ein in Hamburg wohnhaftes Familienmitglied benennen. Man kümmerte sich in Friedland nicht nur um die Einbürgerungen, sondern vor allem um die Familienzusammenführungen. Ich könnte aber ein fiktives Familienmitglied nennen, denn die Stiftung überprüfte nichts. Anna wusste das von ihrer Schwester, die bereits vor zehn Jahren nach Deutschland gekommen war.
Am Vormittag des dritten Tages in Friedland saß ich endlich im Container der Otto-Benecke-Stiftung. Am Tag zuvor war ich mit Anna in der Mittagszeit mit dem Zug nach Göttingen gefahren. Wir hatten auf der dortigen Hauptpost im Hamburger Telefonbuch gestöbert, um einen potenziellen Verwandten ausfindig zu machen. Meine Wahl war auf einen Horst Grabowski gefallen, der in der Jenfelder Straße wohnte. Der Mann von der Otto-Benecke-Stiftung freute sich richtig für mich, dass ich in die Stadt gehen durfte, in der ich auch zu studieren vorhatte. Er wünschte mir viel Glück, unterschrieb die letzten Formalitäten und schickte mich ins Büro für Registrierungen . Dort bekam ich einen Registrierschein, eine Fahrkarte nach Hamburg und einhundertfünfzig Deutsche Mark in bar. Eine Stunde später saß ich im Zug nach Hamburg.
Ich hing immer noch am Lerchenfeld vor der Kantine rum und wunderte mich, warum diese nicht aufmachte, bis mir einfiel, dass heute kein Wochentag war. Die Kantine hatte nie am Wochenende auf. Ich holte beim Pförtner den Schlüssel für das Atelier im dritten Stock. Ich hatte nach wie vor Hunger und hoffte, dass oben einer der Kommilitonen seine Kekse liegen gelassen hatte. Ich war mir inzwischen sicher, dass ich mich nicht Lola Coca Cola nennen wollte. Zwar hatte ich mich gestern der Hamburger Kulturszene mit meinem gebürtigen Namen Lola Brzozadrzewska vorgestellt, aber den sprachen eh alle falsch aus. Ich brauchte einen Künstlernamen, den sich jeder schnell merken konnte. Ich war echt. Ich war authentisch. Mein Name war originell. Dennoch war er ein Handicap. Ich setzte mich vor eines meiner angefangenen Bilder, an dem ich schon seit Wochen malte. Das Bild war mir sehr wichtig, ein Selbstporträt: ich als Matrosin vor Hafenhintergrund. Leider war es für die gestrige Ausstellung nicht fertig geworden. Ich betrachtete es lange. Ich hatte keine Zweifel. Ich war begabt. Dennoch heulte ich. Ich fühlte mich verloren und kraftlos. Ich empfand Emotionen, war aber in niemanden verliebt. Ich hatte auch niemanden um mich, der mich zu lieben schien. Meine Lebenssituation kam mir sehr dramatisch vor. Der Gedanke, mir den Künstlernamen Lola Love zuzulegen, funkelte kurz auf, doch ich ließ ihn liegen. Ich war mir gerade so unsicher mit allem. Offensichtlich fehlten mir Gleichgesinnte. In den letzten fünf Jahren hatte ich noch niemanden kennengelernt, mit dem ich mich so vertraut gefühlt hätte wie damals mit Anton. Klar hatte ich Liebeleien. Manchmal jede Woche eine neue. Mir war es egal, welchem Geschlecht sie angehörten. Ich probierte sie alle aus, kleine und große, dicke und dünne, dumme und schlaue, reiche und arme Männer, darunter sogar Penner, Frauen wie Damen, Transen wie Zwitter. Immer war was nicht richtig an ihnen. Nicht an mir, daran zweifelte ich nicht. Ich hatte eben einen Vergleich, war ja schon mal fünf Jahre mit einem Mann zusammen und sogar verheiratet gewesen! An mir lag es nicht. Sie waren es, die zu mir nicht passten. Und obwohl
Weitere Kostenlose Bücher