Hausverbot
gehörte, die das Geld für schlechtere Zeiten sparten. Dabei war Sybilles Leben wirklich schon schlecht, und schlechter konnte echt nicht kommen. Wahrscheinlich war Sybille einfach geizig. All ihre Eigenschaften widerten mich an. Und obwohl ich so viel an dem Mädchen auszusetzen hatte, hätte ich sie trotzdem gerne zur Freundin gehabt. Weil mir eine fehlte. An der Stelle hatte ich offensichtliche Defizite, die mich zu der Person machten, die ich nun war. Derzeit Hippiehasserin, Kleptomanin und Freie-Kunst-Studentin, die nicht genau wusste, wohin ihr Leben ging, die aber auch nicht zu oft darüber grübeln wollte. Sonst heulte ich. Und niemand war da, der mich in den Arm hätte nehmen können.
Ich war immer noch allein. Anton hatte die Scheidung eingereicht, weil er Asia heiraten wollte. Das tat weh. Aber egal. Ich war weit weg von ihm und lenkte mich zu gerne ab, um nicht an ihn zu denken. Ich redete mir ein, ich sei stark genug, um mir selbst Liebe zu geben. Seit ich aus dem Vorwerkstift rausgeflogen war, nannte ich mich Lola Love. Mein zweites Zuhause wurde mein erstes. Ich übernachtete am Lerchenfeld. Das taten einige, sowohl Studenten als auch einzelne auswärtige Gastdozenten und Professoren. Das war zwar nicht legal, es störte aber auch niemanden. Dort gab es im linken Flügel der zweiten Etage Warmwasserduschkabinen. Von diesem Aspekt her war das Hausen am Lerchenfeld sogar vorteilhafter als im Vorwerkstift. Man konnte warm duschen, und geheizt waren die Räume auch. Bloß eine Privatsphäre hatte man da keine. Wer am Lerchenfeld übernachtete, schlief in einer Art Hochbett, das eigentlich ein Bilderlager war. Die Bilderlager gab es überall. Wenn man aber keins hatte, baute man sich selber eins, oder man übernahm es von jemandem, der es nicht mehr brauchte. Ich zog in das Bilderlager von Niko ein, der gerade ein Atelierstipendium bekommen hatte.
Es war ein schöner Frühlingsnachmittag, Montag, der 22 . A pril 1985 . Ich war auf einer Besorgungstour gewesen und kam auf dem Rückweg an einem Passfotoautomaten vorbei. Ich sah den Automaten und hatte Lust, mich zu fotografieren. Passfotos waren mein Hobby seit meiner Kindheit. Immer, wenn ich eine neue Frisur hatte, ließ ich von mir ein Passfoto machen. In Polen gab es keine Passfotoautomaten. Passfotos machte man dort in einem Fotostudio. Meine lustigen Frisuren in einem Fotostudio zu dokumentieren war überhaupt kein Spaß. Man musste sich ruhig auf den Stuhl setzen und noch ruhiger warten, bis der Fotograf die Schärfe in seiner Kamera eingestellt hatte. Er bat um ein neutrales, freundliches Gesicht. Wie ein Arzt war er daran gewohnt, dass man seine Autorität akzeptierte. Wenn man da Fratzen gemacht hätte, hätte er sich geweigert, einen zu fotografieren. Er hätte sich nicht ernst genommen gefühlt. Für die meisten Menschen war das Passfotomachen auch kein Jux. Sie machten höchstens alle paar Jahre neue Passfotos. Sie ließen sich auch keine lustigen Frisuren schneiden wie ich. Wobei ich immer lachen musste, wenn ich mir die Beispielfotos in den Schaufenstern der Passfotostudios anguckte.
In Hamburg gab es an jeder Ecke Passfotoautomaten. Ich liebte sie genauso wie die Waschcenter, die ich einfach benutzen konnte, ohne wie damals in Polen monatelang für eine Waschmaschine anzustehen. Im Passfotoautomaten konnte ich mich endlich so fotografieren, wie ich es wollte. Auch wenn ich meinen Arsch oder meine Titten fotografierte, war das dem Automaten egal. Zum Glück. Ein Studiofotograf hätte sich bestimmt geweigert, so eine Idee zu verwirklichen. Er hätte meine Kreativität gebremst. Wie gut, dass mein Leben von solchen Spaßverderbern nicht mehr abhing. Ich sagte mir das mehrfach am Tag. Weil ich mehrfach am Tag Bestätigung brauchte, in welcher Form auch immer. Und dass ich ständig Bestätigung brauchte, war wiederum die Bestätigung dafür, dass ich immer noch eine Künstlerin war. Weil ich manchmal schon den Überblick verlor, ob das, womit ich mich die ganze Zeit so intensiv beschäftigte, immer noch zu meinem Studium der Freien Kunst gehörte. Gleichzeitig hatte mein Treiben ein System, ich wusste bloß nicht, welches. War meine Kleptomanie Kunst, immer noch Kunst, keine Kunst, keine Kunst mehr, oder sollte sie erst Kunst werden? Ich war mit diesem Dilemma so allein wie Robinson Crusoe ohne Freitag. Ich traute mich aber nicht, darüber mit meinem Professor zu sprechen. Der gesunde Teil meines Menschenverstands sagte mir, dass Böhmler die
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