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Haut, so weiß wie Schnee

Haut, so weiß wie Schnee

Titel: Haut, so weiß wie Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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sie ans Geländer und bückte sich zu der Arzttasche hinunter. Er änderte seinen Griff und hielt sie jetzt am Knöchel fest. Jette versuchte zu treten, hatte aber keinen Platz. Der Mann durchsuchte die Arzttasche. Er ging systematisch vor. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er die Blutprobe in ihrem Strumpf fand. Sie musste abhauen. Oder den Mann zumindest hinhalten, bis die Polizei kam. Bloß wie? Sie schaute sich um. In ihrer Reichweite gab es nur das Geländer, an dem ein überquellender Aschenbecher befestigt war. Irgendjemand hatte eine halb volle Tüte mit Gummibärchen hineingestopft. Eine Armada von Ameisen machte sich über die süßen Reste her.
    Der Mann durchwühlte immer noch die Arzttasche. Sein T-Shirt war etwas hochgerutscht, und durch die gebückte Haltung stand seine Hose hinten am Bund ab. Das Gummiband einer bunten Unterhose war zu sehen.
    Einen Augenblick zögerte Jette. Dann zog sie mit spitzen Fingern die Süßigkeitentüte aus dem Aschenbecher und griff hinein. Im Innern klebte und wuselte es. Die Ameisen waren ihre Chance. Sie nahm eine Handvoll Gummibären aus der Tüte, hob die Unterhose des Mannes kurz an und schob das klebrige Zeugs schnell hinein. Der Mann richtete sich auf. Er hielt sie jetzt wieder am Arm fest. »Was soll das denn?«, fragte er irritiert und fasste sich an den Hintern.
    Eine Zeit lang suchte der Mann einfach weiter. Dann aber griff er sich hinten in die Hose und förderte ein paar zerdrückte Gummibärchen zutage. Ungläubig blickte er auf das Süßzeug. Jette sah eine Ameise auf seiner Hand, die versuchte, sich schnell in Sicherheit zu bringen. Der Mann schleuderte die Bären auf den Boden und wandte sich erneut der Tasche zu. Aber er hatte jetzt ein Problem, das war offensichtlich. In immer kürzeren Abständen presste er seine Pobacken zusammen. Und dann ging es auf einmal richtig los: Der Mann sprang völlig unvermittelt wie ein junges Zicklein zur Seite, bewegte wiederholt das Becken vor und zurück und rieb auf obszöne Weise die Oberschenkel aneinander. Sein Gesicht war verzerrt. Der Mund fest zusammengepresst. Eine ganze Menge Ameisen mussten in der Hose zurückgeblieben sein. Jette sah dem Schauspiel etwas unsicher zu.
    Im Stadion wurden bereits Stimmungslieder gespielt. Die Pause schien fast zu Ende zu sein. »Gehen Sie doch auf die Toilette …«, sagte der Mann im Fußballtrikot, dem die Verrenkungen nicht verborgen geblieben waren. Aber Jettes Verfolger achtete nicht auf ihn. Er wühlte weiter in seiner Hose herum, biss die Zähne zusammen, atmete tief durch und knetete seine Lippen. Dann stöhnte er kurz auf und griff sich einmal mehr an die Hose. Die Zuschauer im Stadion grölten.
    Einem plötzlichen Impuls folgend hob Jette den Kopf und erstarrte. Auf der Leinwand sah sie überlebensgroß den Mann, der ihr gegenüberstand und sie immer noch festhielt, während er verzweifelt mit dem Po wackelte. Im ersten Moment dachte Jette an eine Täuschung. Aber dann wurde ihr klar, dass irgendeine Kamera die Szene einfing und direkt übertrug. Als Pausenfüller. Ihr Verfolger bekam davon nichts mit. Die Leinwand befand sich hinter seinem Rücken.
    »Verdammt!«, schrie der Mann plötzlich. Er ließ Jette los und riss sich mit einer unglaublichen Geschwindigkeit die Hose herunter. Zum Vorschein kam ein Herrenslip mit einem hellen bunten Wellenmuster. Der Mann bückte sich, und ohne den Slip auszuziehen, schüttelte und wischte er an ihm herum. Dann erhob er sich schnell wieder und zog die Hose hoch. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck völliger Erschöpfung. Nichts wie weg!, dachte Jette. Doch da drehte sich der Mann um und blickte auf der Stadionleinwand direkt in das Muster seiner Unterhose. Dort wurde mit ein paar Sekunden Verzögerung das Ameisenfinale live übertragen. Der Mann schaute abwechselnd zu Jette und zur Leinwand. Langsam verwandelte sich sein Gesichtsausdruck von Ungläubigkeit zu schrecklicher Gewissheit. Er machte einen Schritt auf Jette zu.
    Jetzt rannte sie endlich los. Aber mehr als Laufschritt war nicht drin. Zwei Schritte nach rechts, einen nach links, dann ein kleiner Frontalzusammenstoß mit einem Senioren. Und weiter, die ganze Zeit die »Kannst-du-nicht-Aufpassen«-Rufe im Ohr. Irgendwann blickte sie hastig zurück. Der Mann war nicht mehr zu sehen. Sie suchte die Menge nach ihm ab, doch er schien ihr nicht gefolgt zu sein. Sie verschnaufte und ließ den Oberkörper nach vorn fallen. Ihr war elend zumute. Sie hatte jetzt einen Feind. Und

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