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Haut, so weiß wie Schnee

Haut, so weiß wie Schnee

Titel: Haut, so weiß wie Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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wusste nicht einmal, wer der Mann war.

Vorsicht, Enten!
    Jonah lag im Dachgeschoss auf dem Bett, und die Tür zum Flur erschien ihm unerreichbar weit entfernt. Viel weiter als Mexiko damals. Dorthin wäre er ohne mit der Wimper zu zucken gefahren. Alles war schon geplant gewesen, sein Kumpel hatte dort Verwandtschaft. Lediglich an der Erlaubnis seiner Eltern hätte er noch arbeiten müssen. Aber dann war der Unfall dazwischengekommen. Wobei »dazwischengekommen« der falsche Ausdruck war. Um genau zu sein, hatte der Unfall das Thema ein für alle Mal vom Tisch gefegt. Wie nah war ihm Mexiko damals erschienen! Und wie unüberwindbar weit weg lag jetzt nur schon die Tür vor ihm. Es ging einfach nicht.
    Nach einer Weile ging die Tür auf und Carmen guckte herein. »Lust auf Schokoladenkuchen?«, fragte sie. Jonah nickte. Er ließ sich den Teller aufs Bett reichen und nahm einen Bissen. Er schmeckte nach echter Schokolade. Nicht nach diesem Instant-Kakaozeug. Sondern dunkel, bitter, aufregend und gleichzeitig süß. Der Kuchen war so leicht, dass er im Mund sofort zerfiel. Jonah aß alles auf und kratzte die Krümel zusammen. Wo war eigentlich sein Rucksack, den er sich damals gekauft hatte? Ob er ihn irgendwann doch noch brauchen würde? Musste ja nicht unbedingt Mexiko sein. Aber im Moment waren ihm ja schon ein paar Schritte zu viel. Jonah versuchte, sein rechtes Bein zu bewegen, aber er schaffte es einfach nicht. Er fühlte sich, als hätte ihn jemand mit unsichtbaren Ketten ans Bett gefesselt.
    »Memme«, murmelte er.
    »Hast du was gesagt?«, fragte Dukie, der Kabel sortierte.
    »Memme!«, sagte Jonah etwas lauter.
    »Was ist denn jetzt los?«
    »Nichts.«
    »Kannst ja gehen, wenn dir was nicht passt.«
    »Genau«, sagte Jonah und stand auf. Er machte zwei Schritte, und ihm wurde schwindelig. Am liebsten wäre er an Ort und Stelle zu Boden gesunken. Aber er spreizte die Beine, sodass er wie ein Revolverheld in der Mitte des Zimmers stand. Dukie sagte nichts. Als der Schwindel vorüber war, ging Jonah weiter bis zur Tür. Er öffnete sie, trat hinaus und schloss sie hinter sich.
    Im Treppenhaus war es still. Normalerweise holte seine Mutter ihn abends im Dachgeschoss ab, und sie gingen gemeinsam hinunter in die Wohnung. Oder er begleitete Carmen, wenn sie das Geschirr holte. Er machte wenig allein. Die anderen kümmerten sich um ihn, und er ließ sie gewähren.
    Er musste das Mädchen unbedingt warnen. Er hatte schließlich geschworen, das zu tun, wenn die Schlange ihn verschonte.
    Sie hatten noch zwei Gespräche belauscht. Das eine erst am Vormittag. Da war Dr. Saalfeld richtig außer sich gewesen. Wenn Wim Tanner nicht anders an das Blut herankomme, müsse er das Mädchen eben entführen, hatte Dr. Saalfeld gesagt. Er solle aber unerkannt bleiben und dem Mädchen für die Blutentnahme ein Schlafmittel geben. Danach könne er das Mädchen ja wieder freilassen.
    Offenbar hatte Wim Tanner gestern wieder vergeblich versucht, eine Blutprobe zu beschaffen. Am Nachmittag hatte er im Stadion vor aller Augen die Hose heruntergelassen. Marie hatte es Jonah kichernd erzählt. Anscheinend hatte diese Lina Sandwey irgendwas damit zu tun gehabt. So hatte er Dr. Saalfeld und Wim Tanner am Morgen verstanden.
    Das andere Gespräch lag schon ein paar Tage zurück. Und was er da gehört hatte, war sehr beunruhigend. Er wusste jetzt, dass Dr. Saalfeld hoffte, bei dem Mädchen ein verändertes Gen zu finden, das ihm seine makellose Haut bescherte. Aus diesem Grund war er auch so scharf auf die Genprobe. Den Hinweis auf das besondere Gen hatte er offenbar aus alten Aufzeichnungen aus der Klinik. Sie stammten von diesem Norbert Königssohn. Die Konkurrenz sollte von den neuen Forschungen nichts mitbekommen. Und dann hatte Dr. Saalfeld gesagt, dass in dem Moment, in dem es Hinweise darauf gebe, dass die Konkurrenz von seinen Forschungen Wind bekomme, man sich sehr genau überlegen müsse, ob man das Mädchen nicht früh genug »grundsätzlich verschwinden« lasse. So hatte er sich ausgedrückt.
    Jonah musste jetzt handeln und durfte nicht länger zögern. Er ging auf das Geländer zu, griff nach dem glatten, kühlen Handlauf und nahm die ersten Stufen. Nach ein paar Schritten hob er die Hand und tastete nach dem Wandteppich. Die Venus von da Vinci. Der Teppich hing schon seit seiner Kindheit an dieser Stelle. Jonah spürte unter seinen Fingerkuppen die krausen Fäden der Muschel, den fein gesponnenen Frauenkörper und die blonden

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