Haut, so weiß wie Schnee
griff nach der Tasche und trat die Flucht nach vorn an – sie rannte los. Einen Augenblick später hörte sie die Schritte ihres Verfolgers hinter sich.
Der Mann holte schnell auf. Fliegen wäre jetzt gut, dachte Jette. Sie lief an einem Mädchen vorbei, das auf dem Bürgersteig einen Motorroller startete. Es trug Zöpfe und keinen Helm. Es sah nett aus. Jette stoppte scharf. »Kannst du mich mitnehmen?«, keuchte sie. »Der verfolgt mich.« Sie machte eine Armbewegung hin zu dem Mann, der sie fast erreicht hatte. Das Mädchen nickte und fuhr fast in derselben Sekunde an. Jette schwang sich auf den fahrenden Roller. Mit der einen Hand hielt sie sich an dem Mädchen fest, mit der anderen umklammerte sie die Tasche.
»Was wollte der denn?«, fragte das Mädchen, das mit hoher Geschwindigkeit durch die Seitenstraße sauste.
»Mein Blut«, sagte Jette matt.
Das Mädchen kicherte. »Ein Vampir?«
»Vielleicht«, sagte Jette. »Wo fährst du hin?«
»Ins Stadion. Bin viel zu spät. Wenn ich Glück hab, komm ich noch zur Halbzeit. Ich hab Dienst, bin Sani.«
»Sani … was?«, fragte Jette.
»Sanitäter.«
Ein Taxi drängelte sich neben sie auf die Spur.
»Idiot!«, schimpfte das Mädchen. »Kann der nicht hinter uns bleiben?!«
Hinter den Autoscheiben erkannte Jette das kantige Gesicht ihres Verfolgers.
»Welchen Weg nimmst du?«, fragte sie das Mädchen.
»Über die Wiese. Das ist am schnellsten.«
»Dürfen da Autos fahren?«
»Nein.«
»Gut«, sagte Jette erleichtert. So würde sie den Mann abhängen können.
Als sie die Wiese erreicht hatten, hielt das Taxi an. Jette sah, wie der Mann ihnen zu Fuß hinterherlief. Doch der Abstand zwischen ihnen wurde schnell größer. Der Mann hatte keine Chance.
»Komm doch mit mir rein«, sagte das Mädchen, während sie den Roller abschloss. »Ist kein Problem. Wir nehmen den Angestellteneingang. Und wenn das Spiel vorbei ist, gehst du mit dem ganzen Pulk raus. Da findet dich garantiert niemand.«
»Danke«, sagte Jette.
Als sie drinnen waren, hob das Mädchen den Mittelfinger ihrer geschlossenen Hand in die Höhe. »Zeig’s ihm!«, sagte sie grinsend.
Jette lachte und winkte ihr hinterher. Dann kaufte sie sich eine Cola und schlenderte zur halb leeren Zuschauertribüne. Sie lehnte sich an das Geländer, setzte die Tasche auf demBoden ab und legte ihre Jacke darüber. Sie ließ den Blick schweifen. Das Stadion war riesig. Es war zur letzten WM extra neu gebaut worden. Sie hatte es jedoch noch nie von innen gesehen. Es besaß ein gläsernes Vordach, Tausende von orangefarbenen Sitzplätzen und eine riesige Leinwand. Aus den Lautsprechern dröhnte Musik. Ein paar Meter weiter schlenderte ein Mann vorbei, der ihr irgendwie bekannt vorkam. Es war der Eisverkäufer, der vorhin mit seinem Wagen noch vor ihrem Haus gestanden hatte. Merkwürdig.
»Wo ist die Blutprobe?«, hörte Jette plötzlich eine wütende Stimme hinter sich. Wie aus dem Nichts aufgetaucht, stand auf einmal der Mann vom Roten Kreuz neben ihr. Sie spürte seinen eisernen Griff am Handgelenk. »Her damit!«, befahl er und quetschte ihr Armgelenk.
»Lassen Sie mich los! Sonst rufe ich die Polizei.«
»Das wirst du schön bleiben lassen.«
»HALLO! … HILFE!«, rief Jette in Richtung zweier Männer, die ein paar Meter entfernt Bier trinkend auf ihren Sitzen saßen. Aber ihr Rufen ging in der Musik des Stadions unter. »HALLO!!!?«, brüllte Jette noch einmal, so laut sie konnte. Endlich blickten die Männer auf.
»Die Po…«, setzte Jette an.
»Könnten Sie bitte die Polizei holen«, kam ihr Verfolger ihr mit kräftiger, verbindlicher Stimme zuvor. »Diese Göre hat meine Brieftasche gestohlen.«
Die Männer kamen herüber. Sie trugen Fußballtrikots.
»Bitte rufen Sie die Polizei«, sagte Jette. »Der Mann ist ein Betrüger.«
Die beiden Fußballfans schauten verdutzt in die Runde. In ihren Gesichtern spiegelte sich ein großes Fragezeichen. Dann murmelte einer von ihnen »Okay, okay« und machte sich auf den Weg. Der andere blieb stehen, wo er war, und starrte Jette unverhohlen an.
Der Mann vom Roten Kreuz hielt sie mit der einen Hand fest, mit der anderen tastete er ihre Hosentaschen ab.
»Lassen Sie mich los!«, schrie Jette.
Doch er achtete nicht auf sie.
»Helfen Sie mir!«, rief Jette dem Mann zu, der immer noch mit Glotzen beschäftigt war.
»Könnten Sie das Mädchen bitte in Ruhe lassen, bis die Polizei kommt?«, sagte der Fußballfan lahm.
Der Mann vom Roten Kreuz drängte
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