Haut, so weiß wie Schnee
nach hinten und umfasste den warmen Stamm des Baumes. Langsam ließ der Schwindel nach.
Sie wusste, dass sie als Lina Sandwey geboren worden war. Ihre Adoptiveltern hatten ihr das schon vor langer Zeit erzählt. Aber sie konnte sich nicht daran erinnern, dass sie jemals Lina genannt worden wäre. Mit ihrer leiblichen Mutter war sie nur sieben Tage zusammen im Krankenhaus gewesen. Danach hatte ihre Mutter das Leben auf der Straße wieder aufgenommen.
»Außerdem ist dieser Schönheitswettbewerb eine Falle, Lina …« Wie selbstverständlich er den Namen aussprach. Jette fühlte Sehnsucht in sich aufsteigen. Wie in dem Märchen von Rapunzel, dachte sie, wo die Frau unbedingt den Salat auf der anderen Seite der Mauer haben will. Wie gern hätte sie ihre Mutter einmal gesehen. Nur einmal. Einfach um zu wissen, wie sie so war. Ihre Eltern hatten immer wieder versucht, sie zu finden. Aber nichts. Alle Nachfragen inDrogenambulanzen, Gefängnissen und Sozialämtern waren erfolglos geblieben.
Der Junge sprach immer noch. Jette sah ihn an. Wieder fiel ihr Blick zuerst auf die Sonnenbrille. Die Gläser waren sehr dunkel und die Augen dahinter nicht zu erkennen. Eigentlich war die Brille gar nicht so groß. Genau betrachtet handelte es sich sogar um ein eher dezentes Modell mit einem feinen kupferfarbenen Gestell. Und doch hatte die Brille etwas Monströses an sich. Sie schien das gesamte Gesicht zu dominieren, als wäre sie das Zentrum von allem. Ein totes Zentrum, dachte Jette. Wie ein schwarzes Loch, das alle Lebensenergie aufsaugt. Sie erschrak bei dem Gedanken. Am liebsten hätte sie dem Jungen ihre Hand auf die Wange gelegt – wie um die Macht der Sonnenbrille zu bannen.
»Hörst du mir eigentlich zu?«, fragte er plötzlich und hob den Kopf.
»Klar«, sagte Jette automatisch.
Der Junge wirkte mit einem Mal hilflos. Er kann mein Gesicht nicht sehen, dachte Jette. Er weiß nicht, ob ich zuhöre oder nicht.
»Erzähl bitte weiter«, sagte sie.
»Du kannst natürlich zur Polizei gehen«, fuhr er fort. »Aber wir haben keine Beweise. Man wird dir wahrscheinlich nicht glauben. Und …« Der Junge stockte. »… meine Eltern arbeiten für die Saalfelds. Wir wohnen in der Villa. Wenn Dr. Saalfeld herausbekommt, dass ich das alles weitererzählt habe, fliegen meine Eltern raus. Ich habe eine andere Idee, Lina …«
Da war der Name wieder. Sie hatte sich fast schon ein bisschen an ihn gewöhnt. Eine Szene in einem Film fiel ihr ein, den sie einmal im Fernsehen gesehen hatte. Darin ging ein junger Mann durch eine verbotene Tür, um herauszufinden,wie die richtige Welt dahinter aussah – jenseits der Grenzen seiner eigenen kleinen Kunstwelt, in der er aufgewachsen war. Auch ich gehe jetzt gleich durch eine solche Tür, dachte sie.
»Woher kennst du meinen Namen?«, fragte sie den Jungen. »Weißt du etwas über meine Mutter?«
Der Junge hob irritiert den Kopf. Er brauchte einen Augenblick, um dem abrupten Themenwechsel zu folgen. Dann schüttelte er den Kopf und sagte: »Nein, ich kenne deine Mutter nicht.«
»Aber du weißt doch etwas über sie?«
Der Junge überlegte. »Ich hab gehört, sie war hübsch.«
»War?«
»Wahrscheinlich ist sie es noch. Ich weiß wirklich nichts.«
»Aber du kennst meinen Namen von früher«, sagte Jette und blickte auf das Schild im Gras. Es war eine weiße Magnettafel, die der Junge mit einem dicken schwarzen Stift beschrieben hatte. Die Buchstaben waren gut leserlich, wenngleich sie am Ende einer Zeile in die Höhe flogen.
»Dr. Saalfeld hat ihn einmal erwähnt«, sagte der Junge. »Das ist alles. Ich kenne nur den Namen. Wie heißt du denn jetzt?«
Die Tür zur anderen Welt war nicht aufgegangen. Jette war enttäuscht. Sie hätte so gerne mehr über ihre Mutter erfahren. »Du hast also eine Idee?«, fragte sie. Sie fühlte sich auf einmal elend.
Der Junge zögerte eine Sekunde, aber dann sprach er weiter. »Du könntest dir selbst Blut abnehmen und es an einem geheimen Ort hinterlegen. Dann teilst du Dr. Saalfeld mit, dass, falls dir etwas passiert, dein Blut plus schriftliche Erklärungen an die Polizei gehen und zudem an alle wichtigen Unternehmen der Kosmetikindustrie. Dann kann ereigentlich kein Interesse mehr daran haben, dich in seine Gewalt zu bekommen. Verstehst du, Lina?«
»Nenn mich nicht Lina!«, fauchte Jette. »Ich heiße Jette.«
Der Junge machte ein dummes Gesicht.
»Ähm …«, stotterte er. »Gut, okay. Jette also.«
»Genau.«
»Ob das mit dem hinterlegten
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