Haut, so weiß wie Schnee
antwortete Klara automatisch. Dann rief sie Charlie auf dem Handy an und bat sie, sofort zu kommen. Charlie passte nicht weit vom Café entfernt auf die Kinder einer Lehrerin auf. In zehn Minuten sei sie fertig, sagte sie.
Jette war jetzt seit vier Tagen verschwunden. Vier lange Tage. Unzählige Male hatten Jettes Eltern bei Klara angerufen. Ob sie nicht irgendeine Idee habe, wo Jette sein könnte? Ob ihr nicht etwas aufgefallen sei? Jettes Eltern waren krank vor Angst. Und Klara auch. Gleich am Freitag hatte sie ihre Aussage bei der Polizei gemacht. Sie hatte ihnen von dem Betrüger vom Roten Kreuz erzählt. Ob das etwas mit dem Verschwinden von Jette zu tun haben könnte, wollte sie wissen. »Wir ermitteln in alle Richtungen«, war die Standardantwort des Kommissars gewesen.
Sie und Charlie hatten alle Freunde und Bekannten von Jette angerufen. Und noch bevor die Polizei irgendwie tätig geworden war, hatten sie zusammen mit Jettes Eltern ihr Zimmer durchsucht. Sie hatten Jettes Notizbuch auf Terminehin durchforstet, ungelöschte Nachrichten auf ihrer Mailbox abgehört und sogar ihr Tagebuch gelesen. Nichts. Es gab nicht einen Hinweis, wo sie sich aufhalten könnte. Jette war wie vom Erdboden verschluckt. Und diesen Jungen, mit dem sie kurz vor ihrem Verschwinden bei Anna gewesen war, kannten weder Klara noch Charlie. Das machte die Sache nicht besser.
Klara hob den Aschenbecher etwas in die Höhe. »Persönliche Daten der vernommenen Personen«, las sie. »Hier, deine Schokolade!« Klara wirbelte herum und stieß mit dem Ellbogen an das Tablett der Kellnerin. Die Schokolade schwappte über den Tassenrand und das Tablett schwankte bedrohlich. Aber die Kellnerin bekam es wieder zu fassen, und mit triumphierender Miene stellte sie es vor Klara ab. »Wichtige Unterlagen?«, fragte sie mit Blick auf die Papiere.
Klara schwieg. Dann schossen ihr unvermittelt die Tränen in die Augen. Schnell beugte sie sich über die Kakaotasse, trank einen Schluck und verbrannte sich den Mund.
Sie war am Mittag im Polizeipräsidium gewesen, um dem Kommissar ihre Hilfe anzubieten. Niemand kannte Jette so gut wie sie und Charlie. Klara hätte der Polizei sagen können, wie sich Jette in bestimmten Situationen verhalten würde. Was realistisch war und was nicht. Eine unschätzbare Hilfe für die Polizei, hatte sie gedacht. Doch der Kommissar wollte sie nicht einmal vorlassen. Er habe zu tun, hieß es. Aber Klara hatte sich nicht abwimmeln lassen. Schließlich war sie tatsächlich im Zimmer des Abteilungsleiters gelandet, dem Chefs des Kommissars. Der Abteilungsleiter bereitete gerade seine Abschiedsfeier vor. Er ging in Pension.
»Klara!« Charlie ließ sich neben sie auf den Stuhl fallen. Von ihr ging eine wohltuende Ruhe aus, und Klara fühlte sich sofort besser. »Was ist das?«, fragte Charlie und zeigte auf die Blätter.
»Na ja«, sagte Klara ausweichend.
»Du warst doch bei der Polizei, oder?«, fragte Charlie.
Klara nickte. Und dann erzählte sie. Wie sich der Abteilungsleiter nur für sein Büfett interessiert hatte, das gerade aufgebaut wurde. Wie er mit der hübschen Küchenhilfe über den gelieferten Mettigel gefachsimpelt hatte, der nichts anderes als ein ekelhafter Hackfleischkloß mit Zwiebelaugen und Salzstangenstacheln war. Wie er die Buletten, Schnitzel und Blutwürste selbst am Tisch angerichtet hatte und es einfach nicht möglich gewesen war, mit ihm über Jette zu sprechen.
»Und dann ist seine Sekretärin mit einer ausgedruckten E-Mail reingekommen«, sagte Klara und schaute Charlie bedeutungsvoll an. »Eine ausgedruckte E-Mail!«
»Ja und?«, fragte Charlie.
»Auf seinem Schreibtisch stand kein Computer. Verstehst du? Gar keiner. Kein PC, kein Laptop. Und dann hat der Abteilungsleiter aus einem Aktenschrank einen Hängeordner geholt und die E-Mail dort abgeheftet. ›Vermisstensache Lindner und Mint‹ stand drauf. Und den Ordner hat er auf seinem Schreibtisch liegen lassen.«
Charlies Blick wanderte zu den Papieren auf dem Bistrotisch. Begreifen machte sich auf ihrem Gesicht breit. »Und wie hast du das gemacht?«, fragte sie begeistert. »Du bist echt unglaublich.«
»Die Küchenhilfe hat ein Spanferkel reingebracht. Auf einem Wohnzimmergrill. Die beiden haben den Grill angeschlossen und das Feuer angemacht. Und dann wollte der Abteilungsleiter den Rauchmelder abmontieren. Also Stuhl in die Mitte rollen, hochklettern, abschrauben und … cool und lässig wieder runterspringen. Aber
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