Haut, so weiß wie Schnee
keine Beweise beibringen können. Überhaupt bleiben in diesem Szenario viele Fragen offen: Warum weiß bei Stayermed niemand über dieses angeblich wichtige Projekt Bescheid? Wären entsprechende Forschungen wissenschaftlich betrachtet überhaupt realistisch? Warum wurde der Junge ebenfalls entführt?
Theorie 2: Es liegt kein Verbrechen vor. Stattdessen befinden sich die beiden vermissten Jugendlichen auf einer Italienreise. Es gibt zwei glaubwürdige Zeugenaussagen, die von entsprechenden Plänen berichten (Marie Kosta und Carmen Serrano). Die Jugendlichen sind demnach ohne Erlaubnis losgefahren. Dies kommt häufiger vor, als man gemeinhin annimmt. Der blinde junge Mann, der aufgrund der Aussagen der oben bereits genannten Zeugen offensichtlich sehr verliebt war, wollte möglicherweise das Risiko eines Verbots der Reise gar nicht erst eingehen. Was das Mädchen betrifft, wollte sie ihren Adoptiveltern möglicherweise nicht eingestehen, dass sie ihre leibliche Mutter sucht. Nach Rückfrage bei unserer Polizeipsychologin ist ein solches Verhalten nicht selten. Sollte sich dieses Szenario bewahrheiten, haben die Zeugenaussagen der übrigen jungen Leute ausschließlich den Zweck, den wahren Grund der Abwesenheit der Vermissten zu verschleiern. Sie haben ihre Aussagen entsprechend abgestimmt und sich die Geschichte mit dem besonderen Gen ausgedacht, das Herr Dr. Saalfeld angeblich sucht. Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass die Jugendlichen versuchen, den Verdacht auf Dr. Saalfeld zu lenken. Sein Sohn Alexander ist auch nicht gut auf ihn zu sprechen (Zitat Alexander Saalfeld: »Das hat eine lange Geschichte«). Vielleicht handelt es sich um einen Rachefeldzug. Weitere Geschichten wie die Blutabnahme durch den Gärtner Wim Tanner sollen die Polizei offenbar auf falsche Fährten führen.
Fazit: Szenario 2 erscheint mir plausibel. Es gibt keinen einzigen tragfähigen Beweis für die Anschuldigungen der Jugendlichen. Dr. Saalfeld hat einen ausgezeichneten Leumund. Er ist ein geschätzter Bürger (wohltätige Spenden, Verdienste um die Gartenkunst), erfolgreicher Unternehmerund zuverlässiger Familienvater. Sein Sohn hingegen hat durch die Verwanzung der Villa und des Gartens großes kriminelles Potenzial bewiesen. Auch die psychische Situation der jungen Leute spricht für das hier beschriebene Szenario. So ist der blinde Jonah Mint vermutlich sehr verliebt, was eine »Spontanreise zu zweit« nicht unwahrscheinlich erscheinen lässt. Das offenkundig sehr hübsche vermisste Mädchen scheint innerhalb ihres Freundeskreises eine dominante Rolle zu spielen, was dazu führt, dass ihre Freunde zu Falschaussagen für sie bereit sind. Was sie selbst betrifft, wäre es nicht das erste Mal, dass ein Adoptivkind eine gewisse psychische Labilität aufweist.
Maßnahmen:
Die Aktenlage erlaubt es nicht, Dr. Saalfeld und Wim Tanner festzunehmen. Die Anschuldigungen der Jugendlichen sind nicht glaubhaft. Die Polizei wird die vermissten Jugendlichen zur Fahndung ausschreiben. Möglicherweise kann die Polizei in Italien sie aufspüren. Entsprechend wird die Polizei keine Sonderkommission zur Suche der Jugendlichen einrichten. Wir gehen davon aus, dass die Jugendlichen in einigen Wochen von selbst wieder auftauchen. Um auf Nummer sicher zu gehen, werden wir allerdings in den nächsten Wochen, zumindest solange die Jugendlichen verschwunden sind, Herrn Dr. Saalfeld und Herrn Tanner observieren lassen. Zu dieser kostenträchtigen Maßnahme haben wir uns aus Gründen der Vorsicht entschieden. Sollten sich Auffälligkeiten ergeben, wird der Einsatz einer Sonderkommission neu geprüft werden. Beim Umgang mit der Presse empfehle ich, auf das Alter der Vermissten hinzuweisen. Wir haben es bei den Vermissten nicht mit Kleinkindern zu tun – in einem solchen Fall wäretatsächlich höchste Alarmbereitschaft gegeben –, sondern mit zwei frischverliebten 15- und 16-jährigen Jugendlichen.
Klara fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. »›Psychische Labilität‹«, wiederholte sie. »Die verdrehen alles. Jette ist in Gefahr, und die tun so, als machte sie eine Italienreise! Das alles ist doch der Hammer!« Sie machte eine Handbewegung in Richtung der Blätter.
»Wir sollten nicht zu viel von der Polizei erwarten«, stellte Charlie fest.
»Am besten gar nichts«, sagte Klara böse. »Wichser.«
»Was?«
»Wichser!«, sagte Klara lauter.
Die Bedienung blickte zu ihnen herüber.
»Und jetzt?«, fragte Charlie nach einer Zeit.
Klara kramte
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