Haut, so weiß wie Schnee
Roman. Und alles ziemlich alte Schinken. Weil es nichts anderes gab, hatte Jette schließlich doch in die Bücher hineingeschaut und Jonah sogar einige Stellen vorgelesen. Der andere Mann stellte jetzt auch noch eine Papiertüte mit Lebensmitteln in die Wasserpfütze. Na super, dachte Jette. Wenigstens nahm er die kleine Stehlampe vom Tisch, die sie für das Verlies bekommen hatten. Sonst wäre die wohl auch noch nass geworden. Mit der Lampe hielt Jette es im Verlies inzwischen einigermaßen aus. Allerdings konnte man sie nie für längere Zeit anmachen, weil es nur eine einzige Steckdose gab und die Luft schon nach wenigen Minuten schlecht wurde, wenn das Gebläse nicht lief.
Jette strich sich den Schweiß von der Stirn. Im Tropenhaus herrschte inzwischen Dschungelklima. Den Pflanzen, die nach und nach angeliefert worden waren, tat die Hitze gut, ihr und Jonah nicht. Anfangs hatten sie noch versucht, sich mit Turnübungen fit zu halten. Aber die schwüle Luft führte bei den geringsten Anstrengungen zu Schweißausbrüchen, und so ließen sie es irgendwann bleiben.
Weiter hinten im Tropenhaus breitete sich bereits ein dichter Wald aus Palmen, Lianen und unbekannten Dschungelpflanzen aus. Der Wald wurde in ganzen Stücken geliefert, mitsamt Erde, und musste nur in den Boden gelassen werden. Es war sicher eine ganze Kolonne Arbeiter unterwegs. Aber Jette und Jonah hatten sie nie zu Gesicht bekommen. Wenn im Tropenhaus gearbeitet wurde, sperrten die Entführer sie in das Verlies.
Einer der Männer bückte sich jetzt nach der Schüssel mit dem alten Waschwasser, die noch unter dem Tisch stand. Und dann passierte es. Ratsch. Der Mann richtete sich auf und stand plötzlich unmaskiert da. Seine schwarze Mütze war in der Mitte zerrissen. Vielleicht war sie an einem Nagel hängen geblieben. Jette erkannte ihn sofort. Es war der Mann, der sich als Mitarbeiter des Roten Kreuzes ausgegeben hatte und sie bis ins Stadion verfolgt hatte – Wim Tanner, wie Jonah ihn genannt hatte. Durch die platt gedrückten Haare wirkte sein Gesicht noch etwas kantiger, als sie es in Erinnerung hatte. Er warf die Mütze wutentbrannt auf den Boden. »Jo«, flüsterte Jette, »Wim Tanner hat seine Maske verloren.«
»Du weißt also auch, wie ich heiße?«, blaffte Wim Tanner sie an. Sie hatte leise gesprochen, aber offenbar nicht leise genug. Sein Gesicht war vor Zorn verzerrt. Drohend kam er auf sie zu. »Hältst dich wohl für besonders schlau?«, fauchte er und baute sich vor ihr auf. Jonah rutschte näher an sie heran. »Dein Pech«, sagte Wim Tanner und packte sie am Kinn. Sie spürte seine kaum beherrschte Aggressivität. Er quetschte ihr den Kiefer. Sie gab keinen Laut von sich. Jonah musste es trotzdem gemerkt haben – an ihrem Atem, der Versteifung ihres Körpers. Er suchte mit seinen Händen nach dem Ort der Handlung und stieß auf Wim Tanners Hand. Er drückte sie bestimmt zur Seite, und Wim Tannerließ es einfach geschehen, so abgelenkt war er von dem neuen Problem, das er jetzt hatte. Wie ein wild gewordenes Tier begann er auf dem kleinen Hochstand auf und ab zu laufen. In der schwülen Hitze wurde sein T-Shirt sofort schweißnass. Hin und wieder unterbrach er seinen Lauf und spuckte kurze Sätze vor ihnen aus.
»… selber schuld …«
»… Was müsst ihr auch die Erwachsenen belauschen …«
»… und jetzt noch das …«
»… Wenn’s nach mir ginge, hätte ich euch sowieso die ganze Zeit im Verlies gelassen. Gibt nur Ärger, wenn ihr hier draußen seid.«
»… Denkt bloß nicht, wir würden euch noch laufen lassen.«
»… Ihr wisst zu viel …«
» … Stellt euch drauf ein …«
»… Glaubt bloß nicht, dass euch hier jemand findet …«
»… Hab keine Ahnung, warum Kai Saalfeld immer noch zögert …«
Schließlich blieb er vor ihnen stehen. Er griff in Jettes Haare, drückte sie zu Boden und raunte ihr ins Ohr: »Der Code ist fast entschlüsselt.« Brutal riss er ihren Kopf in die Höhe und blickte ihr in die Augen. »Und dann bist du fällig.« Sein Gesicht war wutverzerrt. Er gab ihr einen unsanften Stoß, und sie fiel hart zur Seite. Aber da stand Jonah und fing sie auf.
Wim Tanner drehte sich um und ging zur Hebebühne. Sein Komplize, immer noch maskiert, wartete bereits ungeduldig. Dann waren sie weg.
Jette ließ sich auf den Boden sinken. Tränen stiegen ihr in die Augen. Ihr Kiefer schmerzte. Jonah setzte sich neben sie. Sie spürte die Wärme, die von ihm ausging. So saßen sie eine Weile
Weitere Kostenlose Bücher