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Haut, so weiß wie Schnee

Haut, so weiß wie Schnee

Titel: Haut, so weiß wie Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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schweigend nebeneinander, Körper an Körper,ohne sich weiter zu berühren. Hier auf dem Hochstand hatte Jonah sie überhaupt nur einmal berührt. Das war in der Nacht gewesen, als die Fledermaus ihn gebissen hatte. Da hatte er sie in den Arm genommen und über ihre Wange gestreichelt. Im ersten Moment hatte es sie getröstet. Aber dann hatte sie sehr deutlich seine rissigen Finger auf ihrer Haut gespürt und seine Wärme wahrgenommen. Sie war plötzlich so irritiert gewesen, dass sie abrupt aufgestanden war.
    »Vielleicht will er uns umbringen«, sagte Jette jetzt.
    Jonah nickte langsam.
    »Wir müssen etwas tun.«
    Er nickte wieder.
    »Hast du eine Idee?«, fragte sie.
    »Ja.«
    »Das ist gut«, sagte Jette.
    Jonah holte eine Wasserflasche und die Tüte mit dem Essen. Sie tranken hastig. Dann reichte er ihr ein Käsebrötchen. Einen Apfel hätte ich noch gern, dachte Jette. Aber in der Tüte waren nur noch Brötchen. Sie nahm sich noch eines und aß es schweigend auf. Dann fragte sie: »Und was hast du für eine Idee?«
    »Wir überwältigen die Entführer. So bald wie möglich.«
    Sie schaute ihn zweifelnd an. »Du?«
    »Nein, du«, sagte er.
    »Aha«, sagte sie. »Beide Männer?«
    »Ja.«
    »Das ist nicht so einfach.«
    »Wir brauchen natürlich einen Plan.«
    »Und du hast einen?«
    »Ja«, wiederholte Jonah.Der Plan war abenteuerlich. Und riskant. Aber ihr war schnell klar geworden, dass er funktionieren konnte. Das Problem war allerdings: Sie hatten nur einen Versuch. Sie hatten nur eine Chance. Ihre Waffen waren die kleine Lampe und das Campingklo. Sie würden es gleich beim nächsten Mal machen, wenn die Entführer kamen. Wer wusste, wie viele Gelegenheiten sie noch haben würden? Sie mussten die Entführer überwältigen, ihnen die Revolver abnehmen, sie in das Verlies sperren, sich ihre schwarzen Mützen überziehen, sich unerkannt hinunterfahren lassen und dann abhauen. Nicht mehr und nicht weniger. Sie gingen den Plan in allen Einzelheiten durch. Unzählige Male. Sie übten jeden Handgriff. Besprachen das genaue Timing. Versuchten an alle Unwägbarkeiten zu denken. Dann waren sie fertig. Es war inzwischen später Nachmittag, und sie konnten jetzt nur noch warten.
    »Hast du Angst?«, fragte Jette. Sie wollte Jonah aus der Reserve locken. Für ihren Geschmack war er mittlerweile etwas zu cool.
    Er nickte leicht, kniff dabei aber seine Lippen auf eine Art zusammen, an der Jette sofort merkte, dass sie nicht weiterfragen sollte. Er mochte solche Fragen nicht.
    »Und du?«, fragte er.
    »Ja, doch.«
    Nach einer Weile fragte Jonah in die Stille hinein: »Schere, Stein, Papier?«
    »Okay«, sagte Jette.
    »Schere, Stein, Papier!«, sagten sie gleichzeitig und zeigten sich ihre Hände.
    »Du hast gewonnen«, sagte Jette. »Noch mal.«
    »Schere, Stein, Papier!«
    »Wieder du«, sagte Jette.
    »Du lügst«, sagte Jonah.
    »Hast recht.«
    »Du lügst schon wieder.«
    »Stimmt«, sagte Jette.
    Sie spielten schon lange nicht mehr nach den normalen Regeln. Diese waren schnell langweilig geworden. Anfangs hatte Jette Jonah einfach gesagt, was sie mit ihren Händen zeigte, weil er es ja nicht sah. Aber nach den ersten Spielen nahm sie es mit der Wahrheit nicht mehr so genau, und Jonah fand Gefallen daran, herauszufinden, wann sie log und wann nicht. Er lag erstaunlich oft richtig. Zuletzt hatte er keinen einzigen Fehler mehr gemacht. Über dem Spiel lag ein eigenartiger Zauber. Jette hatte Jonah nicht gesagt, dass er inzwischen immer richtig tippte, und er konnte es ja eigentlich nicht wissen. Jette würde es brennend interessieren, wie Jonah das machte, aber er verriet es ihr nicht.
    Plötzlich krachte es hinten im Tropenhaus, und Jette zuckte erschrocken zusammen. Klar, das waren die Affen. Aber sie merkte an ihrer Reaktion, wie nervös sie war.
    Die Affen waren gestern Abend gebracht worden. Ein Haufen aufgeregt quietschender und brüllender Tiere. Sie konnten es nicht fassen, dass sie sich jetzt in einem riesigen Affenhaus befanden. Jonah wusste sogar, dass es Nasenaffen waren. Sie kamen direkt aus dem Dschungel von Borneo, zusammen mit dem Wald. Dr. Saalfeld hatte sie mit eingekauft.
    Jette stellte sich an das Geländer und blickte zu den Tieren hinüber. Sie waren leider zu weit weg, als dass sie sie gut hätte erkennen können. Nur hin und wieder sah Jette für den Bruchteil einer Sekunde ein Tier waghalsig durch die Luft springen. Mal landete es sicher an einem Ast, mal krachte es durch den Blätterwald zu

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