Haut, so weiß wie Schnee
in den Papieren. Dann hielt sie die Seite mit den Adressen hoch.
»Holunderweg 8. Die Villa der Saalfelds. Da fahren wir jetzt hin. Irgendwo muss Jette ja sein.«
Kampf im Verlies
Sie waren jetzt seit vier Tagen gefangen, und Jette erschien es wie eine Ewigkeit. Das Geräusch der fahrenden Hebebühne hatte sich in ihr Gedächtnis eingebrannt. Sie würde es unter Tausenden wiedererkennen. Dabei hatten sich die Entführer gar nicht so häufig blicken lassen. Nur ein paar Mal. Aber das hatte völlig gereicht. Zuerst, wenn der Motor angelassen wurde, knatterte er immer etwas. Dann war es für den Bruchteil einer Sekunde still. Im nächsten Augenblick setzte lauter Motorenlärm ein. Wenn der Korb schließlich fuhr, klackte es in regelmäßigen Abständen. So als laufe er über schlecht verarbeitete Schweißnähte. Nach dem neunten Klack erreichte er sein Ziel, entweder den Hochstand oder den Erdboden.
Klack, klack, klack . Es war wieder so weit. Jette stand in einer Ecke der Plattform und schaute angestrengt in Richtung des Geräuschs. Neben ihr lehnte Jonah an der Wand. Sieben, acht, neun. Jette zählte mit. Jetzt tauchte der Korb am Rand des Hochstandes auf. Wie ein heraufschwebender Helikopter. Sie spürte eine leichte Erschütterung in den Holzplanken, und die Hebebühne setzte an. Die Männer sprangen heraus. Sie waren wie immer zu zweit, und wie an den vorherigen Tagen hatten sie schwarze Mützen über ihre Köpfe gezogen. Unterziehmützen, wie man sie für Motorradhelme nutzte, nur dass sie bis zu den Augen gingen. Die Männer brachten Lebensmittel und ein paar andere Sachen vorbei und nahmen kaum Notiz von ihnen. Jette spürte, dass ihre Hände sich verkrampften. Hoffentlich sind sie gleich wieder weg, dachte sie. Jonah rückte näher an sie heran. Erhatte sich verändert. Er versuchte, für sie da zu sein. Von seiner Weinerlichkeit am Anfang der Gefangenschaft war nichts mehr zu spüren. Er schien sich entschieden zu haben, standhaft durch das Abenteuer zu gehen, und es gelang ihm gut. Fast zu gut. Er wirkte bisweilen irgendwie unnahbar, und manchmal kam es Jette vor, als sitze ein Fremder neben ihr. Sie erkannte Jonah kaum wieder.
Bereits in der Nacht nach ihrem Streit war er sehr souverän gewesen. Sie hatte sich wütend allein in eine Ecke des Hochstandes zum Schlafen gelegt. Irgendwann in der Nacht war sie wach geworden. Der Mond und die Sterne hatten das Tropenhaus in ein silbernes Licht getaucht, sodass es ziemlich hell gewesen war. Jonah lag weit entfernt auf seiner Isomatte und schlief. An seinem Hals saß eine Fledermaus. Im ersten Moment dachte sie an eine Täuschung. Aber je genauer sie hinschaute, desto deutlicher zeichnete sich der sehnige, dunkle Körper des Tieres vor seiner hellen Haut ab. Die Fledermaus hing an seinem Hals. Als Jette das dünne Rinnsal Blut gesehen hatte, war sie so entsetzt gewesen, dass sie geschrien hatte. Es war ein gellender, unkontrollierter Schrei gewesen. Wenn Wim Tanner im Anmarsch war, konnte sie sich auf seine Brutalität einstellen und war gewappnet. Aber der Biss der Fledermaus hatte sie völlig unvorbereitet getroffen. Jonah war wach geworden und die Fledermaus davongeflogen. Er war zu ihr herübergekommen und hatte gefragt, was passiert war. Er hatte das Tier gar nicht bemerkt. Als er nach seiner Wunde tastete, war er nicht einmal sonderlich beunruhigt. Die Fledermäuse gehörten Wim Tanner, sagte er, sie seien im Prinzip harmlos. Offenbar lebten sie jetzt auch im Tropenhaus. Jonah hatte sehr ruhig gesprochen, und Jette hatte sich mit jedem Wort, was er sagte, sicherer gefühlt. Er schien sie vor der Fledermaus zu beschützen, obwohl das Tier doch ihn gebissenhatte und nicht sie. Er hatte vermutet, dass die kleine Wunde in ihrer Armbeuge ebenfalls von einer Fledermaus stammen könnte, denn er hatte sich an eine Unterhaltung zwischen Wim Tanner und Dr. Saalfeld erinnert, die Dukie und er belauscht hatten. In dem Gespräch war die Rede davon gewesen, dass Wim Tanner eine Fledermaus »auf sie angesetzt« hatte. Jette konnte dazu nichts sagen. In jener Nacht am See hatte sie tief und fest geschlafen.
Einer der Männer stellte jetzt eine Schüssel mit neuem Waschwasser auf den Tisch. Er machte sich nicht die Mühe, die Fläche freizuräumen. Prompt schwappte etwas von dem Wasser auf die Bücher, die dort lagen. Die Entführer hatten ihnen irgendwelchen aussortierten Quatsch mitgebracht. Sachbücher über Buchhaltung, Architektur und Elektrizität. Keinen einzigen
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