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Haut, so weiß wie Schnee

Haut, so weiß wie Schnee

Titel: Haut, so weiß wie Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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mir was zum Rauswerfen.«
    Er reichte ihr seine kaputte Brille. »Das ist gut«, sagte sie anerkennend. Sie konnte sich von ihrem Ausguck kaum losreißen, doch irgendwann sprang sie hinunter und umarmte Jonah. Sie glühte fast.
    »Hier, Jella, trink was«, sagte Jonah besorgt.
    Sie nahm einen Schluck.
    »Noch einen.«
    »Später.«
    »Nein, jetzt«, beharrte er. »Du musst trinken.«
    Sie trank noch einen Schluck.
    Dann kletterte sie wieder auf den Stuhl. »Jo, da ist schon ein Stern! Und ein Flugzeug. Wenn ich eine Sternschnuppe sehe, wünschen wir uns was, okay? Und riechst du das? Da hat jemand eine Wiese gemäht.« Sie war so fröhlich, als wären sie schon frei.
    Irgendwann an diesem Abend legten sie sich schlafen und lauschten gemeinsam in die Stille, die keine mehr war.Ein Hahn krähte. Um diese Zeit!, dachte Jonah. Seltsam. In der Ferne sprang ein Auto an. Das Gelächter von Menschen schallte durch die Nacht. Jonah zuckte zusammen. Sie mussten hier raus – und zwar schnell. Das Wichtigste war, dass sie sich irgendwie bemerkbar machten. Vielleicht konnten sie auch eine Fahne aus dem Loch hängen. Zum Beispiel mit Kleidern von ihnen an einem Stuhlbein.
    »Weißt du, was wirklich gemein daran ist, dass du blind bist?«, riss Jette ihn aus seinen Überlegungen.
    »Nein«, murmelte Jonah.
    »Dass du mich nicht sehen kannst!«
    Das ist ja wohl die Höhe, dachte er.
    »Ich bin hübsch.«
    »Ich weiß.«
    »Ja, aber du siehst mich gar nicht. Für dich bin ich völlig unsichtbar. Ehrlich gesagt ist das für mich ziemlich ätzend.«
    Da beugte er sich über sie und küsste sie. Sie hielt ihren Mund geschlossen und bewegte sich nicht. Ihre Lippen waren trocken und rissig, und sehr weich. Sie hatte rote Lippen, das spürte er. Sein Gesicht war ganz nah an ihrem, und ihr warmer Atem zog an ihm vorbei. Ihr Herz schlug laut. Er küsste sie noch einmal.
    »Jo«, sie setzte sich auf, »ich trau mich nicht.«
    Er war verblüfft. Hatte sie etwa noch nie einen Jungen geküsst?
    »Du musst doch gar nichts machen«, sagte er. Etwas Klügeres fiel ihm in diesem Augenblick nicht ein, aber das war egal. Er wusste plötzlich, dass er genau das Richtige tat. »Komm, leg dich wieder hin.«
    Er zog sie an sich und umfasste ihren Körper. Gesicht an Gesicht, Bauch an Bauch, Beine an Beinen, so blieben sie liegen. Sie war heiß und roch sehr nach Jette. Ihr Herz schlugdirekt an dem seinen, und Jonah wartete, ob sich ihre Herzschläge angleichen würden. Aber die Herzen scherten sich nicht umeinander. Er hielt sie noch etwas stärker fest und stieß sich dann mit den Füßen leicht von der Wand ab, um mit ihr im Arm durch den Raum zu rollen. Aber natürlich war dafür nicht genug Platz, die nächste Wand war nur eine halbe Umdrehung entfernt. Jetzt lag sie auf ihm. Er fasste ihr ins Haar. Erst in die vollen Locken, dann an den Haaransatz. Er hielt sie fest. Und da beugte sie sich zu ihm hinab und küsste ihn. Länger, als er sie geküsst hatte. Sie gehört zu den Mädchen, die immer das letzte Wort haben, dachte er.
    Sie richtete sich auf und sagte: »Ich seh dich ja gar nicht.«
    »Ich dich auch nicht«, sagte Jonah.
    Sie ging zu der Lampe, machte sie an und legte sich wieder zu ihm.
    »Das ist viel zu hell«, sagte sie kurz darauf.
    »Ja, find ich auch.«
    Sie knipste die Lampe wieder aus.
    Er küsste sie. Auf ihre Nase. Ihre Wangen. Auf die kleine Narbe am Arm, wo sie in jener Nacht am See gebissen worden war. Auf ihre Augen. Sehende Augen. Dann küsste sie ihn auch auf seine Augen. Es war ein Kuss, der Blinde wieder sehend macht. Also öffnete er seine Augen und erwartete, sehen zu können. Aber alles war dunkel wie immer.
    »Du bist das Beste, was mir je passiert ist«, sagte er.
    »Titanic?«, fragte sie belustigt. »Oder Silbermond?« Sie summte ein paar Takte eines Liedes, das er nicht kannte, hörte aber gleich wieder auf, weil sie die Melodie nicht halten konnte.
    »Ich mein es ernst«, sagte er.
    »Ohne mich wärst du jetzt nicht in diesem Verlies«, wandte sie ein. »Vielleicht sterben wir hier.«
    »Ja, aber davor wollte ich eigentlich gar nicht mehr leben.«
    »Jetzt wirst du vielleicht sterben.«
    »Ich sterbe lieber, obwohl ich leben will, als dass ich lebe, obwohl ich sterben möchte.«
    »Aha«, sagte sie und legte ihm die Hand auf den Mund. Plötzlich hielt sie inne und stützte sich auf.
    »Was ist?«, fragte Jonah.
    »Mir ist schwindelig.«
    »Trink was.« Er suchte nach der Wasserflasche.
    »Ist schon vorbei.«
    Er

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