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Haut, so weiß wie Schnee

Haut, so weiß wie Schnee

Titel: Haut, so weiß wie Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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Pistole gezwungen hatte, wieder in das Verlies zu gehen. Wim Tanner war völlig ausgeschaltet gewesen. Wenn Jette es doch nur geschafft hätte, ihm die Pistole abzunehmen. Wenn das mit dem Strom funktioniert hätte. Wenn die Tür zugegangen wäre … Aber diese Überlegungen führten zu nichts.
    Er zwang sich, die Übungen weiterzumachen. Wahrscheinlich war die Anstrengung in ihrer Lage nicht einmal gesund, aber wenn er sich bewegte, ging es ihm besser. Er lief zwei Runden auf Zehenspitzen mit den Armen in der Höhe. Dann zwei Runden in der Hocke. Sein Körper klebte vor Schweiß. Gewaschen hatten sie sich überhaupt nicht mehr, seit die Männer da gewesen waren. Sie hatten kein Wasser mehr zum Waschen. Jonah dehnte noch seine Beinmuskulatur und die Schultern. Neben sich hörte er, wie Jette eine Seite umblätterte. Auch sie trank zu wenig. Ihre Körpertemperatur war bereits erhöht. Das hatte er am Morgen gemerkt. Sie war regelrecht ausgeflippt und hatte mit den Fäusten gegen die Wand getrommelt. Er war zu ihr hingegangen,hatte sie von der Wand weggeholt, sie auf den Boden gesetzt und seinen Körper schützend um sie gelegt. Sie hatte geweint und war dann in seinen Armen eingeschlafen. Als sie aufgewacht war, schien sie immer noch sehr warm zu sein – zu warm.
    Jonah stieß mit dem Fuß an einen Stuhl. Er wusste nie, wo die Stühle gerade standen. Wenn Jette einen benutzte, war er danach immer woanders, doch das störte ihn nicht. Er hob den Stuhl hoch, drehte ihn um und legte sich die Lehne aufs Kinn. Dann ließ er ihn los und stand freihändig mit dem Stuhl auf dem Kinn im Raum. Es klappte ganz gut, und das nach nur anderthalb Tagen üben. »Nicht schlecht«, kommentierte Jette aus ihrer Ecke. Er ließ den Stuhl zu Boden gleiten und führte ihr sein Fortgeschrittenen-Kunststück vor, das Gleiche mit zwei übereinanderstehenden Stühlen. Für einen Augenblick gelang es ihm. Dann gab es ein lautes Poltern, er strauchelte, stürzte und war kurz darauf unter dem Mobiliar begraben.
    Jette räumte die Stühle zur Seite. Sie weinte lautlos, doch er merkte es trotzdem. Wenn sie weinte, ging ihr Atem anders. Ruckartiger und lauter. Er strich ihr übers Gesicht. Überall waren Tränen. Und wieder war sie viel zu warm.
    »Deine Brille ist ja kaputt«, sagte sie. Sie war ihm bei dem Sturz von der Nase gefallen und lag irgendwo auf dem Boden. Es war ihm egal. Er wandte ihr sein Gesicht zu. »Du hast schöne Augen«, sagte sie unsicher. »Sie sind blau.« Dann entdeckte sie seine Brille. Ein Glas war herausgefallen, aber noch ganz. Sie versuchte, es wieder einzusetzen, doch es gelang ihr nicht. »Schlimm?«, fragte sie.
    Er schüttelte den Kopf.
    »Und?«, sagte sie. »Wie ist es passiert?«
    »Was?«, fragte er, obwohl er genau wusste, was sie meinte.
    »Deine Augen.«
    Er brauchte etwas Zeit, um zu antworten. »Ein Laster«, sagte er dann. Mehr brachte er nicht heraus.
    »Ja, und?«, fragte sie nach einer Weile ermunternd.
    Er musste ihr mehr erzählen, das war klar. Immerhin hatte er ihr vorgeworfen, sich nicht für seinen Unfall zu interessieren.
    »Ich war mit dem Fahrrad unterwegs.« Sein Mund brannte. »Ich …« Er verschluckte sich fast. »Ich bin ganz normal gefahren. Es war eine gerade Straße. Keine Kurve. Ein Laster hat mich überholt. Er fuhr viel zu nah an mir vorbei.«
    »Und dann?«
    »Was, und dann?«
    »Der Unfall?«
    »Was willst du denn noch hören?«, fragte er unwirsch. »Ich konnte nicht auf den Bürgersteig ausweichen. Der Bordstein war viel zu hoch. Ich wäre sofort gestürzt. Also bin ich weitergefahren. Ich dachte schon, ich hätte es geschafft, aber der Laster hatte einen Anhänger. Und der Windsog von dem Anhänger hat mich ins Trudeln gebracht. Ich hab noch versucht, trotz der hohen Kante auf den Bürgersteig zu fahren, aber da ist das Rad schon durch die Luft geflogen. Das ging alles ganz schnell. Ich hab das gar nicht richtig gemerkt. Es war eine irrsinnige Wucht dahinter. Mehr weiß ich nicht mehr.« Er sah den Bordstein wieder vor sich, den er hatte hochfahren wollen. Ein rotbrauner Bordstein mit einer abgebrochenen Kante, voller Dreck und Staub. Und ein Kaugummi hatte da gelegen. Rosafarben und angekaut, mit dem Abdruck der Zähne in der formbaren Masse. Das Kaugummi war das Letzte gewesen, was er gesehen hatte.
    »Und wieso die Augen?«, fragte sie.
    »Ich hab mich beim Sturz am Kopf verletzt. Es war sogar etwas gebrochen. Und dabei wurden die Sehnerven abgeklemmt. Beide.«
    »Wirst du

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