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Haut, so weiß wie Schnee

Haut, so weiß wie Schnee

Titel: Haut, so weiß wie Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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vergangenen Tage. Er war jetzt ein Jäger. Ein blinder Jäger. Lautlos folgte er dem Geräusch der Schritte, indem er sich mit seinen Händen und Füßen vorwärtstastete. Beim Gehen hob er die Füße hoch in die Luft, damit sie sich nicht im Wurzelwerk verfingen, und setzte sie sacht auf dem unbekannten Boden auf. Wenn er auf ein Hindernis stieß, betastete er es und glitt an ihm vorbei. Seine ganze Aufmerksamkeit war auf das Geräusch vor ihm gerichtet. Es war Wim Tanner. Der leichte Geruch nach Fledermäusen machte jeden Zweifel unmöglich. Als der Mann die Tür zum Tropenhaus öffnete, duckte sich Jonah hinter einen Busch. Dann folgte er ihm.
    Die Luft draußen schlug ihm kühl entgegen. Er registrierte es kaum. Wim Tanners Schritte knirschten auf dem Kiesweg. Er ging zum Parkplatz. Jonah lief ihm auf dem Grasstreifen neben dem Weg hinterher. Als Wim Tanner über den offenen Parkplatz ging, blieb er in sicherer Entfernung stehen. Dann wurden zwei schwere Autotüren geöffnet, wie sie an den Ladeflächen von Lieferwagen oder Lastern zu finden sind, und Jonah hörte, wie Wim Tanner keuchend ins Innere des Autos kletterte. Jetzt rannte Jonah los. Es war ein Lauf ins Nichts. Er hielt seine Arme weit vorgestreckt, erwartete aber dennoch, jeden Moment über einen Poller oder einen großen Stein zu stürzen. Aber nichts dergleichen geschah. Als das Auto nicht mehr weit weg sein konnte, verlangsamte er seinen Lauf. Er tastete sich vor und stieß tatsächlich auf einen Lieferwagen. Die Ladetüren standen immer noch offen. Wim Tanner war im Innern des Autos verschwunden und ächzte dort laut. Wahrscheinlich legte er Jette gerade auf dem Boden ab. Ob das Auto innen dunkel war? Stockdunkel?
    Jonah kletterte geräuschlos in den Wagen hinein und zog die Tür schnell hinter sich zu. Er war jetzt mit Wim Tanner und Jette allein im Auto. Hoffentlich ist es dunkel und er kann nichts sehen, betete Jonah. Im Wagen war es still. Wim Tanner rührte sich nicht. Nur sein pfeifender Atem war zu hören. Er wartet ab, ob ich ein Geräusch mache, dachte Jonah. Damit er weiß, wo sein Gegner ist. Er sieht wirklich nichts! Sonst hätte er längst angegriffen. Aber wo war Jette? Warum hörte er sie nicht atmen? Plötzlich hörte Wim Tanners pfeifendes Atemgeräusch abrupt auf. Ob sich die Augen des Mannes bereits an die Dunkelheit gewöhnt hatten? Vielleicht fiel doch etwas Licht in den Laderaum? Und wenn Wim Tanner irgendwo eine Lampe hatte? Jonah blieb nicht viel Zeit. Er schlich auf Wim Tanner zu. Seine nacktenFüße verursachten keinerlei Geräusch. Es waren nur drei, vier Schritte, die ihn von dem Mann trennten. Jonah wusste genau, wo Wim Tanner stand – er konnte ihn riechen. Wie ein Hund bewegte er sich nach rechts und links schnüffelnd vorwärts, dem Geruch von Schweiß, Fledermäusen und Adrenalin folgend. Als Wim Tanner zum Greifen nahe vor ihm stand, blieb er stehen. Der Mann schien ihn nicht zu sehen. Er reagierte überhaupt nicht. Jonah hörte Wim Tanners Schlucken, das Knacken seines Kiefers, sogar einen leisen Furz. Aus dem Mund des Mannes drang der Geruch von Tomatensoße mit Oregano. Jonah hörte Wim Tanners Herz schlagen. Oder war es sein eigenes? Jonah schloss die Hand zur Faust und schlug zu. Er traf Wim Tanner seitlich am Hals. Das Gewebe war weich und sehnig. Der Mann taumelte zurück. Verdammt! Er hatte den Kehlkopf treffen wollen, doch das war nicht gelungen. Wim Tanner brüllte dennoch vor Schmerz auf und sank zu Boden. Dort blieb er röchelnd liegen. Jonah bückte sich, tastete nach dem Kopf des Mannes, hielt ihn mit einer Hand fest und schlug erneut zu. Wieder in den Hals. Auch diesmal traf er nicht genau den Kehlkopf. Aber unter seinem Schlag sprang eine Sehne weg. Er schlug noch ein drittes Mal zu. Und traf den Kiefer. Als er seine Faust dieses Mal zurückzog, war sie feucht und klebrig. Schnell fand er Jette, hob sie auf und kletterte mit ihr aus dem Wagen. Sie atmete. Er hievte sie sich über die Schultern. Jetzt musste er nur den Weg nach Hause finden.
    Es gab einen kleinen unbefestigten Pfad, der über den Acker zur Villa führte. Er hatte alles im Kopf. Zuerst musste er links über den Parkplatz. Er ging los. Seine Hände, mit denen er Jette trug, fehlten ihm zum Tasten. Mit den Füßen suchte er nach der Einmündung des kleinen Weges und fand ihn. Jette war bei ihm. Er würde alles für sie tun. Er hatte das Gefühl, sie bis ans Ende der Welt tragen zu können. IhrKopf lag auf seiner Brust und baumelte beim

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