Haut, so weiß wie Schnee
Gehen leicht hin und her. Wasser tropfte von ihren Haaren, und auch ihre Kleider waren von der Berieselungsanlage komplett durchnässt. Er versuchte, ihren Kopf festzuhalten, was ihm allerdings nicht gelang, weil er beide Arme brauchte, um sie überhaupt tragen zu können.
Sie kamen an den Teil des Ackers, auf dem sein Vater Kartoffeln anbauen ließ. Jonah hörte das leise Rauschen des Windes in den Stauden. Es roch nach frischem Laub. Ob die Pflanzen blühten? Sie dufteten leider nicht, wenn sie blühten. Als Blinder war ihm die Kartoffelblüte abhandengekommen. Was ihm in dieser Situation durch den Kopf ging! Verrückt. In Gedanken blickte er in ein weiß-gelbes Blütenmeer. Für ihn blühten sie jetzt. Er lachte leise. Niemand konnte ihm vorschreiben, was er sah. Nicht einmal die Wirklichkeit.
Dann durchzuckte es ihn. Ob er Dr. Saalfeld geradewegs in die Arme lief? Immerhin war es seine Villa, zu der er gerade ging. Jonah blieb stehen. Plötzlich fühlte er sich schutzlos auf dem einsamen Feld. Wahrscheinlich war seine Silhouette noch aus Hunderten Metern Entfernung zu sehen. War die Nacht dunkel oder hell? War es bewölkt, oder war der Himmel klar? Jonah fröstelte. Dabei war es nicht einmal richtig kalt. Aber warm war es auch nicht. Was war das überhaupt für ein Wetter? Die Welt um ihn herum begann sich zu drehen.
Jette war schwer, er packte sie kaum noch. Und seine Füße begannen jetzt zu schmerzen. Er war barfuß über Kies gelaufen, mit ihr auf den Schultern. Kleine und große Kieselsteine hatten sich in seine Fußsohlen gebohrt. Und in seiner rechten Ferse war ein pochender Schmerz. Vielleicht ein Dorn.
»Jella«, sagte er leise. »Du musst aufwachen.« Er legte sie behutsam in das Gras am Wegrand und setzte sich neben sie.»Wach auf«, sagte er noch einmal und strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie hatte Fieber. Sogar unter ihrer nassen, kalten Kleidung spürte er, dass sie glühte. Plötzlich fingen seine Hände an zu brennen. Brennnesseln. Hier war alles voller Brennnesseln. Jette atmete ruhig weiter. Sie reagierte nicht. Dann begann ihr Bein zu zucken. Es war ganz steif und zuckte. Er strich hilflos mit seiner Hand über ihre Haut. Ich muss sie verstecken und dann Hilfe holen, dachte er. Aber wo gab es hier ein Versteck? Er würde sie ein paar Meter neben dem Weg auf den Boden legen. Im Dunkeln würde man sie nicht sehen. Hoffentlich holte sie sich nichts, wenn er sie hier in ihren nassen Klamotten liegen ließ. In der Ferne hörte er eine Sirene. Sie kam näher. Die Polizei, dachte er erleichtert. Dukie hatte sein Handy dabeigehabt. Na klar.
Neben ihm knackte ein Ast.
Dann traf ihn ein harter Schlag, und er rang nach Luft.
Noch ein Schlag.
Jonah wurde ohnmächtig.
Wim Tanner, der Jonah trotz zweier angebrochener Halswirbel gefolgt war, hob Jette auf, warf sie sich über die Schultern und wankte mit ihr über den Acker fort.
Wim Tanner feiert Geburtstag
Wim Tanner saß auf der Familienveranda der saalfeldschen Villa und schenkte gerade Getränke ein. In das erste Glas füllte er einen Lowland Scotch, in das zweite einen Straight Bourbon und in das dritte einen japanischen Single Malt. Mit Whiskeys kannte er sich aus. Und was er in der Hausbar im Esszimmer gefunden hatte, konnte sich sehen lassen.
Heute war sein Geburtstag. Sein fünfunddreißigster. »Bedien dich«, hatte Kai Saalfeld gesagt und war dann in sein Arbeitszimmer verschwunden.
Das erste Glas, das er eingeschenkt hatte, war für ihn selbst. Das zweite und dritte für fiktive Gäste. Ein altes Spiel von früher. Am Morgen hatte ein Lieferant sogar noch einen Kasten besten Mineralwassers aus den schottischen Highlands gebracht. Es war also alles da, was man für eine Whiskeyparty brauchte. Eine der Frauen musste das Wasser noch vor ihrer Abreise bestellt haben. Regelrecht überstürzt hatten sie alle das Haus verlassen. Mit Ausnahme von Carmen. Die war schon seit geraumer Zeit nicht mehr da gewesen. Einige Tage nach ihrer Aussage bei der Polizei hatte sie sich heulend krankgemeldet. Wim Tanner hatte den Anruf in der Villa zufällig entgegengenommen. Jetzt waren nur noch er selbst, Kai Saalfeld und das Mädchen in der Villa.
Der kleine Verandatisch wackelte etwas, und er legte eine winzige Nacktschnecke, die gerade an seinen Füßen entlangkroch, unter eines der Tischbeine. Das Möbelstück drückte sich tief in den schleimigen Körper des Tieres und hatte jetzt Halt.
Die Abendsonne fiel warm auf sein Gesicht, als
Weitere Kostenlose Bücher