Haut, so weiß wie Schnee
Wim Tanner in den Garten blickte. Zugegeben, es war riskant gewesen, in die Villa zurückzukehren. Aber es hatte geklappt. Seine Verkleidung hatte standgehalten. Jetzt, wo alles gut gegangen war, fand er den Schachzug genial. Niemand vermutete ihn hier. Die Polizei hatte das Haus gerade nach Strich und Faden durchkämmt. Draußen vor den Toren hingegen suchten sie das ganze Land nach ihm ab. Nicht ohne Grund hatten sich legendäre Mafiagrößen immer wieder in ihren Heimatdörfern versteckt. Dort fanden sie Unterstützung bei ihren Familien, und wenn die Polizei einen Ort einmal gut durchsucht hatte, wurde sie nachlässig. Der Mafiakiller Bernardo Provenzano zum Beispiel hatte alle an der Nase herumgeführt. Vierzig Jahre lang hatte er unbehelligt im Untergrund gelebt. Erst dann war er festgenommen worden, und zwar in seinem Heimatdorf Corleone auf Sizilien. Wim Tanner hatte nicht vor, denselben Fehler wie Provenzano zu machen. Er würde nicht zu lange am selben Ort bleiben. Sein Plan war, sich ein neues Versteck zu suchen, sobald es draußen etwas ruhiger geworden war. Bis dahin konnte er das Mädchen gut in der Villa unterbringen. Verstecke gab es genug. Von Zimmern im Haus, die niemand mehr nutzte und die mit Gerümpel vollgestellt waren, bis hin zu geheimen Kellerverliesen, die er im Laufe der Jahre eigenhändig angelegt hatte. Keinen Ort kannte er so gut wie die Villa, keiner war so verlässlich. Offiziell war es natürlich Kai Saalfelds Haus, doch Wim Tanner hatte es über die Jahre auf seine Art in Besitz genommen. Hier, an diesem Ort, im Auge des Orkans, fühlte er sich sicher. Wim Tanner beglückwünschte sich selbst zu der gelungenen Rückkehr.
Als er mit einem neu gekauften Gebrauchtwagen zur Villa gefahren war, hatte er das Mädchen im Kofferraum versteckt. Die Zivilbeamten am Eingang hatten ihn noch nicht mal angehalten.
Er hatte sich als älterer, südländischer Mann verkleidet und gab sich als der neue Gärtner aus. Der alte war flüchtig, hatte die Polizei erzählt. Er grinste beim Gedanken daran, wie leicht er die Beamten hatte täuschen können. Das Mädchen hatte er von der Garage aus unbemerkt ins Haus bringen können, denn in der Garage befand sich ein Aufzug, der bis hinauf ins Dachgeschoss fuhr, wo sie nun angekettet war.
Wim Tanner blickte in eines der gefüllten Whiskeygläser. Sein geschminktes Gesicht spiegelte sich in der goldgelben Flüssigkeit. Ein Gefühl von Bitterkeit stieg in ihm hoch. Was für ein Aufwand, sich so zu verkleiden! Er hatte eine Rundumverwandlung hinter sich. Seine dichten Haare waren ausgedünnt und grau gefärbt. Außerdem trug er jetzt einen ungepflegten grauen Vollbart. Über dem rechten Ohr steckte ein Hörgerät, und eine Selbstbräunungscreme sorgte für den südländischen Teint. Die Augen waren rot unterlaufen, aber dafür hatte er nicht extra Hand anlegen müssen. Das war das Werk dieser Jette Lindner. Und die Halskrause, die er trug, hatte er dem behinderten Sohn der Mints zu verdanken.
Natürlich hatte Wim Tanner auch einen neuen Namen: Antonio Caño, Gärtner aus Andalusien. Ob er an Gesellschaft interessiert sei, hatte Kai Saalfeld vorhin noch gefragt und ihm, ohne eine Antwort abzuwarten, das Terrarium mit der Puffotter auf die Veranda gestellt. Eigentlich hatte Wim Tanner das Tier Kai Saalfeld zu dessen Geburtstag geschenkt. Aber in der Praxis war es nun doch eher seine Schlange geworden.
Das Tier war deutlich gewachsen, seitdem Wim Tanner es das letzte Mal gesehen hatte. Es lag träge in einer Ecke des Terrariums und rührte sich nicht. Als er an die Schlange herantrat, öffnete sie ihre zu Schlitzen verengten Augen undblinzelte ihn an. Dann rollte sie sich wieder zusammen und schlief weiter.
Das Einzige, wobei sie nicht nachlässig werden durften, war die Geschichte mit dem Abhören. Dem missratenen Sohn Saalfelds war durchaus zuzutrauen, dass er sie weiter belauschte. Vielleicht hatte auch die Polizei ein paar Wanzen versteckt. Am Nachmittag hatte er mit Kai Saalfeld ein längeres Gespräch gehabt. Sicherheitshalber hatten sie sich dabei auf eine Decke mitten auf der Wiese im Garten gesetzt und auch noch einen Kassettenrekorder angestellt. Sie hatten sich nicht einmal getraut, Stühle mitzunehmen. Wer wusste schon, wo der Bengel seine Mikros versteckt hatte? Aber schließlich waren sie keine Anfänger, daher hatten sie die Sache im Griff. Er hatte sich vorgenommen, im Haus möglichst nicht zu sprechen. Oder nur bei lauter Musik. Womöglich
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