Haut, so weiß wie Schnee
würden Alexander oder Jonah sonst noch seine Stimme erkennen.
Seit dem Gespräch mit Kai Saalfeld wusste er, dass sich vieles ändern würde, verdammt viel sogar, aber das war nicht unbedingt schlecht. Denn je länger er darüber nachdachte, desto klarer wurde ihm, dass er endlich die Chance bekam, die er immer haben wollte: Er war nun sein eigener Herr.
Wim Tanner ließ den Blick über den Garten schweifen, was mit der Halskrause, die er trug, gar nicht so einfach war. Sofort stieg wieder bodenlose Wut in ihm hoch. Er ballte seine Hände zu Fäusten, hielt es nicht mehr auf dem Stuhl aus und sprang auf. Er machte zwei Schritte in Richtung des Hauses, wo er das Mädchen im Dachgeschoss eingesperrt hatte, konnte sich dann aber doch noch beherrschen und setzte sich wieder. Ich darf die Kontrolle nicht verlieren, dachte er. Ich darf nichts Unüberlegtes tun.
Vor ihm lag der Garten mit seiner Blütenpracht da. Die Abendsonne ließ die Farben warm erstrahlen. Rot, Gelb,Orange, Blau, wohin er blickte. Der Garten strahlte etwas Friedliches aus.
Wim Tanners Blick fiel auf das Päckchen am Boden. Das obligatorische Geburtstagspaket seiner Mutter. Er würde es später öffnen. Interessanter war der Brief, der neben ihm auf dem Verandatisch lag. Kai Saalfeld hatte ihm das Schreiben direkt nach seiner Ankunft gegeben. Es war unbemerkt in den Briefkasten der Villa eingeworfen worden. Es waren nur wenige Zeilen. Ein Unbekannter kündigte darin an, dass er Wim Tanner wegen des Falken, den er in jener Nacht am See getötet hatte, zur Rechenschaft ziehen würde. Außerdem verlangte er, dass er das Mädchen sofort freiließe. Das Ganze war mit »Ein reisender Königssohn« unterschrieben.
Der Brief war wirklich sonderbar. Wim Tanner wusste beim besten Willen nicht, was er davon halten sollte. Er war mit Computer auf weißem Papier geschrieben. Ohne Briefkopf. Eigentlich gab es nur zwei Erklärungen: Entweder war der Sohn der Mints völlig am Durchdrehen und drohte ihm. Vielleicht gab er sich als Königssohn aus, der Schneewittchen retten wollte. Nur lag Schneewittchen nicht in einem Glassarg, sondern saß unter einem Glasdach. Wahrscheinlich wusste der junge Mint durch die Abhöraktionen über den Falken Bescheid. Die zweite Möglichkeit: Norbert hatte den Brief geschrieben. Immerhin hieß er Norbert Königssohn . Irgendwie endeten seine Gedanken in dieser Sache immer wieder bei Norbert. So oder so würde er sich von dem anonymen Schreiben nicht beeindrucken lassen. Es war an der Zeit, wieder selbst den Takt vorzugeben.
In den letzten vier Tagen war er der Gejagte gewesen. Er hatte sich eigentlich nur kurz am Elend der Bälger weiden wollen. Einmal von außen an das Verlies klopfen, es kurz öffnen, ein »Hallo, wie geht’s?« hineinschicken und dannwieder zurück ins Krankenbett düsen. Das war sein Plan gewesen, wenn auch ein ziemlich riskanter, denn er wusste, dass die Polizei ihn beschattete. Aber ein bisschen Spaß musste sein, und es war wirklich nicht schwer gewesen, unbemerkt an dem Aufpasser vor der Tür im Krankenhaus vorbeizukommen. Er hatte einfach gewartet, bis der Mann aufs Klo gegangen war. Der Beamte hatte zwar für diese Zeit die Tür von außen abgeschlossen, aber Wim Tanner hatte sie in null Komma nichts mit einem Draht geöffnet, war in aller Seelenruhe hinausspaziert und hatte sich ein Taxi genommen.
Aber die Gören waren nicht im Verlies gewesen. Am Ende hatte er unter großem Stress ein Auto knacken müssen und war in allerletzter Sekunde mit dem Mädchen abgehauen. Zuvor hatte der blinde Sohn der Mints ihn noch schwer am Hals verletzt. Die Schmerzen hatten ihn schier wahnsinnig gemacht. Weil er es nicht für ratsam gehalten hatte, in Deutschland einen Arzt aufzusuchen, war er mit dem gestohlenen Wagen über die Grenze nach Belgien gefahren. Zum Glück war er zu dem Zeitpunkt noch nicht zur Fahndung ausgeschrieben gewesen und wurde nicht kontrolliert.
In Brüssel hatte er sich über Nacht unter falschem Namen als Tourist in einem Krankenhaus behandeln lassen. Das Mädchen hatte er auf einem einsamen Parkplatz im Auto eingeschlossen. Sie war gar nicht wach geworden. Er hatte ihr extra noch ein Schlafmittel gespritzt. Früh am nächsten Morgen war er mit einem Mietwagen und einer neuen falschen Identität wieder nach Deutschland eingereist, das schlafende Mädchen im Kofferraum. Die folgenden drei Tage hatte er mit ihr in einem abgeschiedenen Haus verbracht. Die Immobilie hatte er vor einigen Jahren –
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