Haut, so weiß wie Schnee
durchstoßen können. Sie keuchte inzwischen vor Anstrengung. Irgendwann war das Loch eine Armlänge tief, sodass sie zum Weiterarbeiten hineinkriechen musste.
An ihrer Hand bildete sich schon eine Druckstelle. Sie zog sich das T-Shirt unter ihrem Pullover aus und umwickelte sie damit. Eine Blase konnte sie jetzt nicht brauchen. Aber wenigstens wurde ihr beim Arbeiten warm. Plötzlich rutschte ihr der Meißel beim Schlagen ab. Er war auf eine feste Oberfläche gestoßen. Jette schlug erneut zu. Wieder rutschte er mit einem klirrenden Geräusch ab. Sie wischte die Erdebeiseite. Ein großer Stein kam zum Vorschein. Sie versuchte es etwas weiter rechts. Aber auch dort Fehlanzeige. Sie wischte so viel Erde wie möglich weg – zum Vorschein kam ein Fels. Sie war auf eine Felswand gestoßen. Hier geht es nicht weiter, dachte sie verzweifelt.
Jette spürte, wie die Kraft sie verließ. Sie floss einfach aus ihr heraus. Wie Saft aus einer umgefallenen Flasche. Das Mädchen war unfähig, sich zu rühren. Der Fels vor ihr hatte eine helle, beigefarbene Maserung und kleine Vorsprünge und Einbuchtungen. An einer Stelle zeichneten sich die Umrisse eines Schneckenhauses ab. Jette passte genau in die Höhle hinein, die sie gegraben hatte. Sie fühlte sich merkwürdig geborgen. Die schwarze Erde schmiegte sich eng an sie. Wie lange dauert es, bis man selbst zu einem Abdruck wird?, fragte sie sich.
Sie war nass geschwitzt, und jetzt, wo sie sich nicht mehr bewegte, begann sie zu frieren. Die Kälte drang nun in sie ein, betäubte sie. Sie kauerte sich noch enger zusammen und steckte ihre Hände in die Taschen. Sie versuchte, an Jonah zu denken. Versuchte, sich an sein Gesicht zu erinnern. An seine schmale Nase. Das kräftige Kinn. Die Sonnenbrille. Die beiden langen schmalen Narben. Aber die einzelnen Teile fügten sich nicht zu einem Ganzen zusammen. Einzelne Erinnerungsfetzen tanzten auf ihrer Netzhaut auf und ab. Plötzlich wusste sie, was es bedeutete, dass Jonah in dem Traum im Schneetreiben einfach weitergegangen war. Das war nicht der echte Jonah gewesen, sondern nur die Erinnerung an ihn. Die Erinnerung an ihn hatte begonnen zu verblassen. »Wie schnell das geht«, flüsterte sie.
Ihre Hand stieß auf einen kleinen Gegenstand in der Hosentasche. Sie nahm ihn heraus. Es war ein silberner Knopf. Von einer Jeans. Der Knopf von Jonah, dachte sie. Den er mir zugeworfen hat, als wir im Affenhaus auf Wim Tannergewartet haben. Sie hielt den Knopf fest in der Hand und blieb eine Weile einfach da liegen. Schließlich spannte sie ihre Muskeln und schälte sich aus der engen Umhausung. Dann robbte sie auf allen vieren zur Matratze und kroch unter die Decke. Auf einmal kitzelte sie etwas an den Zehen. Niko war da. Die Maus war am Fußende unter die Decke geschlüpft und lief über Jettes Füße. Die Mäusebabys piepsten.
»Hey, deine Kinder haben Hunger«, sagte Jette.
Sie blickte auf die Uhr. Es war halb drei. Eine letzte Möglichkeit hatte sie noch. Sie konnte versuchen, mit Wim Tanner zu reden. Ihn davon überzeugen, dass er sie freilassen musste. Sie stand auf, aß ein Brötchen, trank etwas Wasser und benutzte die Toilette, die beim Abziehen ein gespenstisches Geräusch machte. Dann schob sie die ausgehobene Erde in das Loch zurück und setzte das Tischbein wieder ein. Wim Tanner musste bald kommen. Ihre tägliche Spritze war überfällig. Ihr Bein juckte. Zwei neue Stiche.
Und da wurde die Luke auch schon geöffnet. Helles Licht fiel durch die Öffnung, und Jette schloss geblendet die Augen. Sie hörte, wie die Strickleiter hinuntergeworfen wurde. Schnell warf sie die Decke über das Nest mit den Mäusen. Wim Tanner würde sie ohne mit der Wimper zu zucken an die Schlange verfüttern.
Der Mann kletterte mit einer Zigarette in der Hand die Leiter hinab.
»Das ist ein Nichtraucherzimmer!«, fauchte Jette.
Wim Tanner sah sie spöttisch an. Er trat einen Schritt auf sie zu und blies ihr den Rauch ins Gesicht. Jette rührte sich nicht. Ihr Blick wanderte über sein Gesicht, und sie sah seine gelben schiefen Zähne und seine geröteten Augen. Warum hatte sie ihn so unfreundlich begrüßt?, ärgerte sie sich über sich selbst. Schließlich hatte sie sich ja vorgenommen,mit ihm zu reden, und da war es bestimmt nicht gerade förderlich, ihn wegen einer Zigarette anzumotzen. Wim Tanner trug immer noch seine Señor-Caño-Verkleidung.
»Deinen Arm!«, bellte er. Er warf die halb gerauchte Zigarette auf den Boden und zog eine Spritze
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