Haut, so weiß wie Schnee
klopfte es dann dreimal an der Luke, und Wim Tanner kletterte wieder hinaus.
Jettes Hand juckte. Sie hatte zwei Stiche. Mücken? Vielleicht eher Flöhe, dachte sie. Etwa von Niko? Jette sah auf die Uhr. Es war halb neun geworden. Selbst hier vertrödle ich noch meine Zeit, dachte sie. Dabei musste sie funktionieren und an ihrer Flucht arbeiten. Diszipliniert. Sie durfte sich keine Schwäche erlauben. Vor zwei Tagen war ihr das noch einmal klar geworden. Da hatte sich Wim Tanner selbst überboten. Er hatte die Luke geöffnet, ihr einen Knochen zugeworfen und in seltener Beredsamkeit gesagt: »Das ist das, was von deiner Mutter übrig ist. Dachte, das interessiert dich. Hat sich Kai Saalfeld für seine Forschungen besorgt.« Und damit war er wieder abgezogen. Sie hatte den Knochen aufgehoben. Es hingen Fleischreste dran, und er roch nach Oregano. Es war eindeutig ein Rest vom Mittagessen gewesen, doch sie war trotzdem geschockt gewesen und hatte den Knochen schließlich in einer Ecke begraben. In diesem Augenblick war ihr bewusst geworden, dass das, was hier geschah, womöglich über ihre Kräfte gehen würde. Sie hatte eine unsichtbare Grenze passiert und befand sich in einer Welt, in der die Gesetze des Lebens, so wie sie sie kannte, nicht mehr galten. Deshalb sagte sie sich immer wieder,dass sie stark bleiben musste, redete sich ein, dass alles gut werden würde, solange sie nur funktionierte.
Sie gähnte. Es fühlte sich gut an, brachte irgendwie ein Stück Normalität in diesen unterirdischen Kerker. Doch sie durfte jetzt nicht schlafen, durfte nicht die ganze Zeit nur herumliegen. Sie musste körperlich fit bleiben, wenn sie aus diesem Loch herauskommen wollte.
Jette stand auf, zog die Lampe um ihren Kopf enger und machte ein paar Kniebeugen. Dann dehnte sie ihre Arm-und Beinmuskeln und sprang ein paarmal in die Luft. Auf dem Tisch stand noch das Waschwasser. Es war braun vor Schmutz, aber besser als nichts. Sie wusch sich kurz das Gesicht und die Hände. Dann trank sie ein paar Schlucke Mineralwasser. Hunger hatte sie keinen. Wenn sie jetzt einen Apfel hätte, wäre es etwas anderes. Aber auf die alten trockenen Brötchen, die noch da waren, hatte sie keine Lust. Was würde sie für einen Apfel geben!
An die Arbeit, sagte sie leise zu sich selbst. Der kleine Tisch war als Nächstes an der Reihe. Sie hatte ihn sich noch nicht genauer angeschaut. Vielleicht konnte er ihr irgendwie helfen, aus dem Gefängnis herauszukommen. Sie räumte ihn erst mal leer und blickte ihn dann prüfend an. Er bestand aus einer Spanplatte und vier metallenen Beinen. Sie drehte ihn um. Die Beine waren an der Tischplatte festgeschraubt. Vielleicht konnte sie ein Bein abmachen? Sie rüttelte etwas an einem der Beine. Es wackelte. Sie stemmte sich mit ihrem Fuß gegen die Tischplatte und zog mit aller Kraft. Einmal. Zweimal. Plötzlich flog sie mit dem Bein in der Hand an die Wand. Mühsam rappelte sie sich wieder auf und hielt das Metallstück hoffnungsvoll hoch. Jetzt besaß sie ein Werkzeug. Einen Meißel.
Von einer Holzverstrebung an der Wand nahm sie ein Handtuch ab. Ein Loch kam zum Vorschein, das Jette miteinem Löffel gegraben hatte. Doch dafür war es bereits recht groß. Es sollte ein Gang in die Freiheit werden, und das neue Werkzeug würde ihr dabei helfen. Das Loch reichte bereits vom Boden bis zu ihren Knien und war ein paar Zentimeter tief. Das ausgeräumte Erdgut hatte sie gleichmäßig unter ihrer Matratze verteilt. Die Erde war wie zusammengepresst, Lehmboden, der es einem nicht leicht machte. Jette suchte den Raum nach einem Stein zum Schlagen ab.
Sie kam jetzt schneller voran. Fast jeder Schlag war ein Erfolg. Die Erde löste sich in großen Stücken. Aber sie musste aufpassen, dass sie sich nicht auf die Finger haute. Sie hämmerte, schaufelte und klopfte unermüdlich weiter, und das Loch wurde zusehends größer. Die zähe Erde und die Wurzeln haben auch ihr Gutes, dachte sie. Sie sorgen für Festigkeit. So konnte sie einen stabilen Gang bauen und musste keine Angst haben, dass sie bei einem Fluchtversuch verschüttet wurde. Ihr schauderte kurz bei der Vorstellung, lebendig in diesem Gang begraben zu werden. Doch dann schüttelte sie diesen Gedanken ab und grub weiter. Eigentlich war es nur eine Frage der Zeit, bis sie oben ankommen würde, sagte sie sich. Sie machte es genauso wie die Wühlmaus, nur eine Nummer größer. Jette grub in die Richtung, aus der die Wurzeln kamen. Dort müsste sie nach oben
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