Haut, so weiß wie Schnee
Matratze mit einem kleinen Löffel in den Boden gekratzt hatte. Vier gerade Linien nebeneinander und eine fünfte quer darüber. Ihre Armbanduhr hatte leider keine Datumsanzeige, daher versuchte sie auf diese Weise dieTage zu zählen, die sie in diesem Kerker bereits eingesperrt war. Sie fügte einen weiteren Strich hinzu. Plötzlich hielt sie inne. Hatte sie heute nicht schon einen Strich gezogen? Nein, dachte sie. Heute ist der sechste Tag. Das ist schon richtig, versicherte sie sich selbst. Oder hatte sie etwa schon jegliches Zeitgefühl verloren? Die Dinge müssen ihre Reihenfolge behalten, dachte sie. Sonst löst sich alles auf. Ob sie noch die einzelnen Stationen ihrer Entführung zusammenbrachte? Erst das Affenhaus. Dann das Haus auf dem Land. Dann das kleine Treppenhaus. Jetzt das Erdloch. Das Leben, das sie vor ihrer Gefangenschaft geführt hatte, kam ihr inzwischen so weit weg vor, dass sie sich manchmal fragte, ob sie es sich vielleicht nur eingebildet hatte.
Das Gefühl, wie Jonah in dem Schneetreiben einfach weitergegangen war und sie allein zurückgelassen hatte, steckte ihr immer noch in den Knochen. Es war so echt gewesen, als hätte sie es wirklich erlebt. Warum träumte sie so etwas? Sie wusste doch, dass Jonah zu ihr hielt und sie niemals im Stich lassen würde. Und seit gestern wusste sie auch, dass er frei war. Sie hatte es in der Zeitung gelesen, die Wim Tanner aus Versehen hier unten liegen gelassen hatte. Er hatte sie nur kurz auf der Matratze ablegen wollen, aber Jette hatte in einem unbemerkten Augenblick schnell ihre Decke über die Zeitung geworfen, und Wim Tanner hatte sie dann anscheinend vergessen.
Gleich auf der ersten Seite prangte ein großes Fahndungsplakat nach Wim Tanner. Und in dem darunterstehenden Artikel wurde Jonah zitiert. Wo er jetzt wohl war und was er gerade machte? Das letzte Mal hatte sie ihn auf der Leiter im Tropenhaus gesehen. Es kam ihr vor, als wäre das schon ewig her.
Allerdings stand in dem Artikel noch mehr. Es gab einen ungeheuerlichen Verdacht. Die Polizei schloss nichtaus, dass Wim Tanner Eizellen von ihr entnehmen und verkaufen wollte. Da sie so außergewöhnlich schön sei, so der Journalist, sei es durchaus denkbar, dass kinderlose Paare für ihre Eizellen tief in die Tasche greifen würden. Die Zeitung hatte sogar ein Schaubild abgedruckt, welche medizinischen Schritte im Einzelnen dafür nötig wären. Erst müsse man das Wachstum der Eizellen durch eine Hormonbehandlung anregen, dann die Eizellen operativ entnehmen, sie mit dem Samen des Mannes befruchten und sie anschließend der neuen Mutter in die Gebärmutter einsetzen.
Jette hatte zunächst an einen Scherz geglaubt. Aber der Artikel klang ganz ernsthaft. Und dann hatte sie an die Spritzen denken müssen, die Wim Tanner ihr täglich verabreichte. Alles ergab auf einmal einen Sinn. Jetzt, da sie zu wissen meinte, was er mit ihr vorhatte, hatte sie das Gefühl, dass ihre Brüste spannten, und ihr war klar geworden, dass Wim Tanner sogar über ihren Zyklus Bescheid wusste.
Als ihr diese Dinge durch den Kopf gegangen waren, war ihr plötzlich ganz anders geworden. Sie hatte auch an das Küken denken müssen, dem sie vor langer Zeit einmal über die Straße geholfen hatte. Das Küken hatte nicht gemerkt, dass sie auf es aufpasste. Ob es auch jemanden gab, der schützend die Hand über sie hielt? An jenem Tag hatte sie für die beiden Tiere Schicksal gespielt – und diese für sie. Denn ohne die Enten hätte Jonah sie nie gefunden! Sie hätte bis heute nicht gewusst, dass es ihn überhaupt gab.
Sie blickte dem Strahl ihrer Kopflampe nach. Er warf einen hellen Lichtkegel an die Wand. Die Abdrücke, die die Baggerschaufel beim Ausheben der Erde hinterlassen hatte, waren gut zu erkennen. Die Wand sah aus wie eine klaffende Wunde. Wurzeln waren gekappt und Erdgänge von Tieren aufgerissen worden. Mit Sicherheit auch die Gänge ihrerkleinen Wühlmaus. Die Wurzeln kamen alle von der linken Seite, nichts wuchs direkt über ihr. Jette hatte darüber nachgedacht und war zu dem Schluss gekommen, dass man sie wahrscheinlich unter einer betonierten Fläche gefangen hielt. Dafür sprach auch die betonierte Decke, die sich erdrückend dicht über ihr befand. Ob sie irgendwo unter der saalfeldschen Villa war? Manchmal schien sich Wim Tanner bei ihr zu verstecken. Dann kletterte er mit einem kleinen Campingstuhl in der Hand in das Erdloch hinab und hörte mit seinem iPod Musik, ohne sie zu beachten. Irgendwann
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