Haut, so weiß wie Schnee
Saalfeld und redete weiter: »Zum Beispiel das Treibhaus dahinten: Dort züchte ich Titanenwurze! Die Pflanzen haben die größten Blüten, die es überhaupt gibt. Aber das weißt du sicher. Vor ein paar Tagen hat eine geblüht. Das gelingt nur wenigen. Ich habe einen Mitarbeiter, der sich sehr gut auskennt. Wenn die Blumen blühen, dann riechen sie … nach Aas. Offen gesagt, sie stinken ganz schön. Das lockt Fliegen und anderes Kleinvieh an. Die Blume ernährt sich von dem Geschmeiß. Jeder hat eben seine eigene Methode zu überleben. Die Tiere verwechseln die Blume mit einem toten Kadaver, und schwups! rutschen sie in den Kelch hinein …«
»Kai, bitte, ich muss mich setzen« , wiederholte der alte Mann seinen Wunsch nach einem Stuhl. Er klang jetzt schwächer als noch vor ein paar Minuten.
»Was dir aber den Atem rauben wird« , dozierte Dr. Saalfeld weiter, »ist mein Tropenhaus. So etwas hast du noch nicht gesehen! Ein echtes Tropenhaus! Die Pflanzen kommen aus Borneo. Ich habe die Bäume in der Erde gelassen und das Ganze parzellenweise verschiffen lassen. Wir mussten dafür mehrere Containerschiffe charternund haben auf den Schiffen riesige Gewächshäuser aufgestellt …«
»Kai …« , unterbrach der alte Mann ihn wieder. Dann waren zwei, drei unsichere Schritte zu hören.
»Du bleibst hier« , sagte Dr. Saalfeld scharf.
»Ich kann nicht mehr.« Noch ein Schritt. Dann gab der alte Herr ein schmerzverzerrtes »Aaah« von sich.
»Was ich sagen wollte« , erzählte Dr. Saalfeld ungerührt weiter. »Nasenaffen! Ich habe echte Nasenaffen mitgebracht …«
»Bitte, lass mich gehen!«
»Was passiert denn da?«, fragte Jonah. »Dukie, hast du ihm nicht gesagt, dass er sich den Garten zeigen lassen muss? Dafür ist er doch da.«
»Er kann nicht mehr«, antwortete Dukie besorgt. »Das hört man doch. Er ist halt alt. Hat einen Langstreckenflug hinter sich.«
»Kai, please stop« , flüsterte der alte Mann.
»Du schaust dir den Garten jetzt an!« , befahl Dr. Saalfeld. Seine Stimme klang kalt und herzlos.
»Warum machst du das?« , fragte der alte Mann.
»Du hast es doch so gewollt!«
»Was hab ich gewollt?«
»Erinnerst du dich nicht?«
»Woran?«
»›Pass mir auf den Gemüsegarten auf‹« , sagte Dr. Saalfeld, als äffe er jemanden nach. »Das hast du gesagt, als du gegangen bist. Und: ›Du kriegst das hin. Wenn ich wiederkomme, steht hier ein Prachtgarten. Dann ernten wir zusammen.‹«
»Kann sein, dass ich das gesagt habe.«
»Aber du bist nicht wiedergekommen. Ich habe die Salatköpfe in der Erde gelassen, bis sie verfault sind. Und im nächsten Jahr habe ich neu ausgesät. Und du bist wieder nicht gekommen.«
Der alte Mann sagte nichts.
»Ich dachte …« Dr. Saalfelds Stimme brach. »Ich dachte, dass ich den Garten vielleicht nicht gut genug gepflegt hätte. Ich war sieben Jahre alt. Ich wusste es nicht besser.«
»Bitte …«
»Ich habe jedes Jahr versucht, es besser zu machen. Als du noch da warst, warst du so …« Dr. Saalfeld suchte nach dem richtigen Wort. »… nett zu mir. Wir waren immer in dem Garten. Diesem Schrebergarten. Du hast mir alles gezeigt. Du hast gesagt, dass die Tomaten ein Dach brauchen, weil sie den Regen nicht mögen. Du hast mir gezeigt, wie tief man die Kartoffeln setzen muss. Und überall hattest du Blumen. Und du hast immer gelacht. Warum bist du gegangen? Wenn du mich wenigstens geschlagen hättest. Dann wäre es nicht so schlimm gewesen. Aber dass du da warst und dann gegangen bist …« Blanker Schmerz sprach aus Dr. Saalfelds Stimme. »Und irgendwann war ich erwachsen. Aber das mit den Gärten hat nicht aufgehört. Ich konnte nichts dagegen machen. Du hattest ja gesagt, dass du wiederkommst!« Dann sagte er auf einmal in einem schneidenden Tonfall: »Hier siehst du den Garten. Ich schenke ihn dir.«
»Du musst mir nichts schenken« , flüsterte der alte Mann.
»Ich habe hart dafür gearbeitet. Bin Manager geworden, habe einen Konzern geleitet, ein Mädchen entführt. Und du sagst, du willst den Garten nicht?«
»Kai …«
»Du meinst, alles war umsonst?«
»Ich bitte dich.«
Der alte Mann schrie auf. Vielleicht hatte Dr. Saalfeld ihn zu Boden gestoßen. Schritte in Richtung Haus waren zu hören. Dann blieb es erst mal still.
»Was ist denn da los?«, fragte Jonah unruhig.
»Alles in Ordnung, Dukie?« Das war Charlie.
»Könnt ihr irgendwas sehen?«, fragte Jonah.
»Was willst du mit dem Kanister?« , rief plötzlich der alte Mann. Er klang
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