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Haut, so weiß wie Schnee

Haut, so weiß wie Schnee

Titel: Haut, so weiß wie Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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liebte Jette. Und dennoch konnte er sie mit seiner Liebe nicht schützen. Er konnte keinen Schutzschild um sie ziehen. Irgendetwas musste bei der Schöpfung gründlich schiefgegangen sein. Es musste nur irgendein Idiot kommen, mit seinem Messer in Jettes Körper stoßen, und sie wäre für immer tot.
    »Essen!«, rief wieder jemand vom Haus, diesmal etwas ungeduldiger. Statt einer Antwort schickte der Mann ein »Hoy, hoy, hoy!« in den Himmel. Dann fragte er: »Wollt ihr zum Essen bleiben?«
    Jonah schüttelte den Kopf. »Danke, aber wir müssen Jette finden«, sagte er. »Wir haben keine Zeit.«
    »Wo wollt ihr sie denn suchen?«
    »Überall.«
    »Man sollte schon wissen, wo man sucht«, sagte der Mann.
    »Danke für den schlauen Ratschlag«, antwortete Jonah böse.
    »Wisst ihr denn wenigstens, wie ihr am besten vorgeht?«
    »Wir kommen schon zurecht«, grummelte Jonah.
    »Ist Kai Saalfeld eigentlich immer noch besessen von seinen Gärten?«, fragte Norbert Königssohn.
    »So kann man es sagen«, erwiderte Jonah müde.
    In der Ferne hörte er das Glöckchen des Falken. Das Klingeln wurde lauter. Das Tier kam zurück.
    »Guter Junge«, lobte der Mann, als es gelandet war. »Bleibt zum Essen«, sagte er. »Vielleicht kann ich euch doch noch helfen.« Und dann fügte er immer noch ungläubig hinzu: »Und sie ist wirklich nicht gestorben?«

Chance und Risiko
    Jonah lag im Bett und konnte nicht schlafen. Er musste daran denken, was Norbert Königssohn ihnen erzählt hatte. Es gebe eine gewisse Chance, Dr. Saalfeld dazu zu bringen, Jette einfach so freizulassen, hatte er gesagt. Man müsse nur ein bisschen Schicksal spielen. Das war der Part, den sie zu übernehmen hätten.
    »Wenn man am Ziel ist, kann man großzügig sein«, hatte Norbert Königssohn gesagt. »Und zum Beispiel ein entführtes Mädchen freilassen.« Es ginge darum, Dr. Saalfelds Hunger zu stillen. Und er, Norbert Königssohn, wisse, was dafür nötig sei. Dr. Saalfeld habe es ihm einst selbst erzählt. Eines Tages, als sie gemeinsam auf der Station arbeiteten, hatte er die Sache wie nebenbei erwähnt. Ohne ins Detail zu gehen. Doch Norbert Königssohn hatte die Worte zu deuten gewusst.
    Aber war die Idee wirklich gut? War sie nicht zu riskant? Was würde passieren, wenn der ehemalige Biologe sich geirrt hatte? Wenn es Dr. Saalfeld doch um etwas anderes ging? Immerhin waren die Ratschläge eines Norbert Königssohns mit Vorsicht zu genießen. Der Mann war fünfzehn Jahre lang ohne wirklichen Grund durch die Welt geirrt. Aber selbst wenn er recht hatte – würde es ihnen überhaupt gelingen, Schicksal zu spielen? Und würde Dr. Saalfeld Jette tatsächlich freilassen? Oder würde er ganz anders reagieren, als Königssohn dachte?
    Jonah zog die Decke höher. Ihm war kalt. Draußen zwitscherte ein Vogel. Ob es schon hell war? Er hatte noch kein Auge zugetan.
    Siebzig zu dreißig Prozent, dass Dr. Saalfeld Jette freilässt, hatte Norbert Königssohn gesagt – sofern sie seinem Vorschlag folgten. Und was war mit den übrigen dreißig Prozent? Wenn das Experiment aus dem Ruder lief und Dr. Saalfeld ausrastete? Wenn sie eine zerstörerische Kettenreaktion in Gang setzten? »Und wie hoch schätzt ihr die Chance ein, eure Freundin zu finden, wenn ihr wie bisher weitersucht?«, hatte Norbert Königssohn sie gefragt. Sie hatten nicht geantwortet.
    Manchmal muss man ein Risiko eingehen, dachte Jonah. Dann hat man wenigstens die Chance zu gewinnen. Sonst verliert man von vornherein. Obwohl, überlegte er, vielleicht kann man auch ohne Risiko gewinnen. Er fasste sich an den Kopf. Ich kann nicht mehr klar denken, dachte er. Oder denke ich klar, und die Dinge sind eben so kompliziert? Und was ist, wenn man ein Risiko eingeht und verliert?

Feuer
    Kai Saalfeld stand auf der Veranda vor seinem Arbeitszimmer und blickte in den dunklen Garten. Die Laternen vorn bei den Buchsbäumen waren soeben angegangen. Im Schein der hellen Lampen warfen die Bäumchen lange Schatten. Er hatte die Pflanzen gestern erst gestutzt. Auch die Rosen in dem Beet daneben waren in dem Lichtschein gut zu erkennen. Kai Saalfeld sah zur Straße. Die Linden an der Einfahrt bewegten sich sacht und würdevoll im Wind, als nickten sie dem Gast bereits zu, den er erwartete. Der Garten hat auch im Dunklen seinen Charme, dachte er und ging in sein Arbeitszimmer zurück, um sich nachzuschenken.
    Bald war es so weit. Der Mann, der ihn besuchen würde, saß wahrscheinlich schon im Taxi. Vor zwei Tagen hatte

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