Haut
sie war es nicht möglich Anklage zu erheben, obwohl jeder wusste, was passiert war.
Das zeigte nur, dass man jederzeit ungeschoren davonkommen konnte, wenn eine Leiche nur gut genug versteckt wurde. Das Allerbeste wäre jetzt, eine Kettensäge zu mieten, Mistys Leiche in tausend Stücke zu zersägen und sie im Wasser und auf den Feldern zu verstreuen. Aber selbst in ihrer neuen, kalten Entschlossenheit konnte sie dieser Lösung nichts abgewinnen. Deshalb war sie zu einem anderen, wie sie fand, rationalen Entschluss gekommen - zu dem einzigen, der ihr einfiel.
Sie zerrte ihre Taucherausrüstung vom Rücksitz, warf sie ein paar Schritte weiter auf den Boden und deckte den Wagen mit Zweigen und Asten zu. Sie schlüpfte aus den Schuhen, stieg in den Taucheranzug, streifte die Auftriebsweste über und hievte die Tauchflaschen auf den Rücken. Saugte dreimal kurz am Atemregler - eins, zwei, drei, überprüfte die Gurte, schloss den Wagen ab und vergewisserte sich noch einmal, dass er vom Weg aus nicht zu sehen war. Dann trug sie ihre Flossen zum Rand des Steinbruchs, zog sie an, legte die Maske an und kletterte an der verrosteten Leiter hinunter ins Wasser. Es war genau dreizehn Minuten nach eins, als sie lautlos im dunklen Wasser des Steinbruchs Nummer acht verschwand.
Die Marleys waren immer eine Familie von Tauchern gewesen. Mum und Dad hatten den Kindern das Tauchen beigebracht. Mit elf bekamen sie ihre ersten Solar-Anzüge, und in den Ferien war die Familie fast immer zum Tauchen gefahren: zum Wracktauchen im Roten Meer, bei Zypern und einmal in der Truk Lagoon, was sie fast an den Rand des Bankrotts brachte. Sie hatten sich wohlgefühlt und miteinander entspannt. Nicht einmal der Unfall konnte daran etwas ändern. Aber jetzt hier zu tauchen, allein und im Dunkeln? Das verstieß gegen sämtliche Regeln der Vernunft. Es war ein dummes Spiel mit dem Tod.
Sie sank langsam auf fünfzehn Meter und ließ dabei kleine Mengen Luft aus dem Anzug entweichen. Der schmale Lichtstrahl der Taucherlampe, erfasste wirbelnde Partikel in der pechschwarzen Tiefe unter ihr. Er reichte vielleicht noch einmal fünfzehn Meter tief hinunter, aber nicht bis auf den Grund. Sie war im tiefsten Teil des Steinbruchs. Unter ihr lagen noch einmal fünfundzwanzig Meter dunkles Wasser.
Nach weiteren fünfzehn Metern fand sie das Netz da, wo sie es in Erinnerung hatte. Das algengrüne Geflecht schimmerte matt und pelzig im Lichtstrahl. Sie hangelte sich fünf Meter weit daran entlang, bis sie auf das Warnschild stieß. Das Loch, das sie in der vergangenen Woche aufgerissen hatte, war noch da; die zerfransten Ränder schwankten wie Seeanemonen langsam hin und her. Sie duckte sich hindurch und drehte sich dabei auf den Rücken, damit die Tauchflaschen nicht hängen blieben; ihr letztes Erlebnis hier sollte sich nicht wiederholen. Kurz hinter dem Netz, dort, wo der Unfall passiert war, hielt sie an; sie drehte sich im Wasser um sich selbst und leuchtete mit der Lampe in die wirbelnde Dunkelheit.
Bei ihren Dekompressionsstopps hängte sie sich normalerweise mit einem Karabinerhaken an eine Leine und schwebte waagerecht im Wasser. Aber jetzt wollte sie senkrecht bleiben, wollte sich um dreihundertsechzig Grad drehen und umschauen können. Sie verstärkte den Auftrieb der Weste und ließ ein wenig Luft aus dem Anzug, damit diese nicht heraufschießen und sich unter der Halsmanschette sammeln konnte. Als sie auftriebsneutral im Wasser hing, breitete sie die Arme aus. Das Licht der Lampe strahlte zur Seite, und sie schwebte in der Dunkelheit wie eine Raumfahrerin im All.
Als Erstes ruhte sie sich aus, konzentrierte sich mit geschlossenen Augen darauf, ihren Kopf zu entleeren, bis nichts mehr da war, kein Gedanke, kein Laut, nur das gleichmäßige Geräusch ihres Ein- und Ausatmens. Vor Jahren hatte sie einmal gehört, dass manche Seevögel einen inneren Kompass besäßen, mit dem sie über die Ozeane und um die halbe Welt navigierten und immer zum selben Brutplatz zurückfänden. Diese Vögel brauchten nicht darüber nachzudenken; sie folgten einem uralten Instinkt - ihr Körper wusste, was ihr Kopf nicht wissen konnte: wo Norden und wo Süden war.
Sie versuchte sich vorzustellen, sie sei ein solcher Seevogel, legte den Kopf in den Nacken und hob das Gesicht zur Wasseroberfläche. Sie wollte sich eine Richtung geben lassen, wollte sein wie ein Seevogel und spüren, welche Richtung sie nehmen sollte.
»Du musst auf dich Acht geben...«
Sie riss die
Weitere Kostenlose Bücher