Hautnah
umdrehte –, weil sie von ihrer Liebe zu Marcus zum allerersten Mal in der Vergangenheit gesprochen hatte.
Das war es dann also, dachte sie mit einem dumpfen Gefühl im Magen. Stephen Molloy hin oder her, weiter mit Marcus zusammenzuleben wäre ein aussichtsloses Unterfangen. Genauso wenig würde sie einen verängstigten Fuchs quälen.
»Dann kommen Sie noch mit zum Kaffee?«, fragte Gina, als Füchschen Popüchschens Martyrium vorüber war. Kaum dass er die Bühne verlassen hatte, war Marcus sofort nach Hause geflohen, um sich die Wunden zu lecken und seinen Text zu lernen. Jack war damit beschäftigt, einen Stapel Bilderbücher auszusuchen, die ihn durch den Nachmittag bringen sollten.
»Gott, ja, bitte.« Lara war einverstanden.
27
G inas Haus musste etwa um die gleiche Zeit herum erbaut worden sein wie das Larssen-Haus. Es machte einen ähnlich baufälligen Eindruck. Das Innere jedoch erzählte eine vollkommen andere Geschichte. Während in der provisorischen Bleibe der Familie Wayland eine Atmosphäre drückender Leere herrschte, war dieses Haus dunkler und kühler und platzte vor herumliegendem Krimskrams schier aus den Nähten. Bücher und Zeitungen stapelten sich auf jeder freien Fläche, auf dem Küchentisch lagen drei Backroste mit frisch gebackenen Plätzchen, und der Fußboden des Wohnzimmers war übersät mit Spielzeug und DVD s. Aber es hatte denselben, leicht strengen feuchten Geruch wie das Larssen-Haus. Wie überall im Ort schien auch hier ein Stinktier in unmittelbarer Riechweite zu lauern.
Auf dem Rückweg von der Bücherei hatte Gina Lara nicht nur das Du angeboten, sondern ihr auch erzählt, dass sie ihre Kinder zu Hause unterrichte. Alle drei waren schlaksig und dürr wie ihre Mutter. Aber während Bert schrecklich schüchtern war – Gina musste ihn in Gegenwart Fremder die ganze Zeit auf dem Arm tragen –, waren Gladys und Ethel, seine acht- beziehungsweise zehnjährigen Schwestern, draufgängerisch und permanent in Bewegung. Kaum zu Hause angekommen, nahmen sie Jack auf ihre knochigen Arme, als wäre er eine große Puppe, und schleppten ihn in ihr Zimmer zum Spielen.
Lara spürte instinktiv, dass sie in Gina eine Freundin gefunden hatte. Das Gefühl war so stark, dass sie gegen den Drang ankämpfen musste, sich hinzusetzen und ihr von Stephen zu erzählen.
Aber natürlich durfte sie nicht einmal seinen Namen erwähnen. Alles, aber auch alles, musste ein Geheimnis bleiben.
»Wie gefällt es dir in Trout Island?«, fragte Gina, während sie mit der Bert-freien Hand die Kaffeekanne auf den Herd stellte.
»Wir sind ja erst seit ein paar Tagen hier«, erwiderte Lara. »Aber es gefällt uns wirklich gut. Die Gegend ist sehr schön.«
»Stimmt.«
»Wie lange lebst du denn schon hier?«, wollte Lara wissen.
»Ich wurde auf einer Farm kurz hinterm Ort geboren«, erzählte Gina. »Aber ich bin viel rumgereist. Keine Provinzeule.« Sie hatte die Angewohnheit, jeden Satz so zu sagen, als wäre er die Pointe zu einem Witz.
»Und dein Mann? Du hast gesagt, er ist Engländer. Wo kommt er her?«
»Aus Coventry. Warst du da schon mal?«
»Ich bin in der Nähe aufgewachsen.« Bei dem Gedanken an ihre Kindheit als einziges Kind in einer privaten Wohnsiedlung am Rande von Northampton hatte Lara sofort einen metallischen Geschmack im Mund. Ihre nachhaltigste Erinnerung an jene Jahre war, dass es außer Alltäglichkeiten nicht viel zu erinnern gab: wie sie in ihrer peinlichen Privatschuluniform im Regen auf den Bus wartete; lange, öde Sonntagnachmittage vor dem Fernseher bei zu hoch eingestellter Zentralheizung. Ihre Kindheit schien einen Grünstich zu haben wie ein verblichenes Polaroid.
Deshalb hatte sie schon früh nach Fluchtmöglichkeiten Ausschau gehalten – erst waren es Bücher gewesen, dann das Theater. Als die effektivste Fluchtmöglichkeit jedoch hatten sich schließlich Männer entpuppt. Durch ihre überstürzte, heimliche Heirat mit Marcus hatte sie dafür gesorgt, dass ihre Eltern – bis auf ihr erbostes Gemurmel, dass all das Geld, das sie in ihre Ausbildung investiert hätten, verschwendet gewesen sei – mehr oder weniger jegliches Interesse an ihr verloren. Sie hatten die Zwillinge ganze dreimal gesehen. Jack hatten sie sogar nur ein einziges Mal zu Gesicht bekommen, und Lara war deswegen alles andere als traurig.
Gina goss den Kaffee ein, und sie machten es sich am Tisch in der geräumigen Küche bequem. Jede Wand war mit Bildern der Kinder zugepflastert.
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