Hautnah
so ein Trampel.«
»Du hast davon angefangen, jetzt musst du es mir auch erzählen.« Lara lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und verschränkte auffordernd die Arme.
»Oje. Aber versprich mir, dass du nicht ausflippst.«
»Versprochen.«
Gina kaute ihren Keks zu Ende, dann stellte sie ihren Becher auf den Tisch. »Also, das Haus steht seit – wie lange ist das jetzt her? – fast fünf Jahren leer.«
»Aha.«
»So ein Haus ist schwer zu verkaufen.«
»Was für ein Haus?«
»Also schön. In dem Haus hat ungefähr sechzig Jahre lang ein Mann gewohnt – Larssen. Ich kann mich noch aus meiner Kindheit an ihn erinnern. Er lebte ziemlich zurückgezogen, lief die ganze Zeit in ein und derselben Hose herum, die oben von einer Schnur gehalten wurde. Er ist den ganzen Tag lang durch die Gegend gestreift, ist meilenweit zu Fuß gelaufen, einfach nur durch den Ort, und hat Selbstgespräche geführt. Er stank ziemlich übel. Wir haben uns immer über ihn lustig gemacht. Na ja, Kinder können ganz schön grausam sein. Er hatte das ganze Haus voller Hunde, die immer überall hingekackt haben.«
»Ich fand gleich, dass es nach Hund gerochen hat.«
»Da geht deine Fantasie mit dir durch.« Gina lachte. »Das ist Jahre her. Wie auch immer, irgendwann, mitten im Sommer, hörte Larssen plötzlich auf umherzuwandern. Natürlich ist uns das aufgefallen, aber wir dachten einfach, dass er vielleicht krank ist oder so. Aber seine Hunde haben Tag und Nacht im Haus gejault. Und der Geruch – der ohnehin schon ziemlich streng war – wurde immer schlimmer. Irgendwann hat sein damaliger Nachbar Andy Schmidt es dann nicht mehr ausgehalten. Er geht also rüber, und weil niemand auf sein Klopfen reagiert, schlägt er die Haustür ein. Das Erste, was er bemerkt, ist der Gestank. Verwesung und Hundescheiße. ›So stinkt die Hölle‹, hat er hinterher gesagt. Dann, als die Haustür offen ist und er in den Flur schauen kann, sieht er es.«
»Was?«, fragte Lara mit ängstlicher Stimme.
Gina legte Bert die Hände über die Ohren. »Das, was noch vom alten Larssen übrig war«, flüsterte sie. »Nachdem die Hunde mit ihm fertig waren. Man nimmt an, dass er die Treppe heruntergefallen ist und sich das Genick gebrochen hat. Und die Hunde, die nichts zu fressen hatten … na ja, du kannst es dir ja denken …«
»Wie grauenhaft.« Lara dachte an den Fleck auf dem Teppich, und ihr drehte sich der Magen um.
»Aber das ist noch nicht alles«, fuhr Gina fort.
»Nicht?«
»Andy Schmidt alarmiert die Polizei, und während er wartet, treibt er die Hunde zusammen und bindet sie auf der Veranda an. Er meinte, sie wären ganz brav gewesen, als würden sie sich für das, was sie getan hatten, schämen. Aber als er danach zurück ins Haus geht, um einen letzten Blick auf den alten Larssen zu werfen, hört er dumpfe Schläge, die von unter der Treppe kommen.«
»Das gefällt mir gar nicht«, sagte Lara, die an den Keller und das Bett dachte.
»Dann höre ich auf«, erwiderte Gina. »Den Rest musst du nicht wissen.«
»Ich glaube doch.«
»Also, schließlich findet Andy eine geheime Tür unter der Treppe.«
»Die kenne ich«, warf Lara ein.
»Er öffnet sie, und plötzlich ist der Gestank noch viel schlimmer, und er hört ein Wimmern. Er findet den Lichtschalter und macht das Licht an, und dann geht er die Treppe runter.«
»Er findet das Zimmer.«
»Genau. Er findet das Zimmer. Und er findet Jane.«
»Jane?«
»Sagt dir der Name was?«
»Ich glaube, ich habe ein Foto von ihr in Bellas Zimmer gefunden.«
»Im Ernst? Merkwürdig. Ich dachte, das Haus wäre komplett ausgeräumt worden.«
»Wer ist sie denn nun? Und was hat sie da unten gemacht?«
»Sie konnte nicht raus. Er hatte sie an die Wand gekettet, wie einen Hund.« Gina hielt inne und biss von ihrem Keks ab.
»Die Handfesseln«, sagte Lara.
»Die Handfesseln sind immer noch da unten? Igitt. Wir wussten natürlich, dass er eine Schwester hatte, die irgendwie behindert war oder verrückt, aber alle haben gedacht, sie wäre in Buffalo in einem Heim untergebracht. Dabei hat er sie in Wahrheit«, Gina verengte die Augen zu Schlitzen, »die ganze Zeit über da unten im Keller gefangen gehalten. Sie hat ausgesehen wie ein Albinomaulwurf, hat Andy gemeint. Sie war seit Jahren nicht draußen gewesen. Sie hat bloß dagesessen, halb verhungert natürlich, sich selbst im Arm gehalten und sich hin- und hergewiegt. Sie war blind und hat die ganze Zeit leise vor sich hin gewimmert.«
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