Hautnah
Zeit für sich hatte. Den Businessplan konnte sie genauso gut vergessen. Er würde sowieso nie fertig werden.
»Hat sich der Typ vom Waschsalon eigentlich schon gemeldet?«, wollte Marcus wissen. Er sorgte sich um das von ihm so getaufte »exorbitante Hemd«. Lara hatte am Abend zuvor gleich nach ihrer Rückkehr die Nummer angerufen, die sie sich auf den Arm notiert hatte, und nach einer Tonbandansage mit russischem Akzent, der so stark war, dass sie kein Wort verstanden hatte, eine Nachricht sowie ihre Festnetznummer hinterlassen.
»Hast du heute Morgen das Telefon läuten hören?«, fragte sie zurück.
»Nein.«
»Dann hat er sich wohl auch nicht gemeldet. Ich muss bald einkaufen gehen. Olly hat praktisch nichts mehr anzuziehen.«
»Können wir das nicht der Versicherung melden?«
»Sicher, aber es kann Ewigkeiten dauern, bis wir das Geld bekommen.«
»Übertreib es nur nicht mit den neuen Sachen, in Ordnung?«
Um Viertel vor zehn machten sie sich auf den Weg zur Bücherei. Jack rannte vorneweg, und Lara und Marcus gingen nebeneinander, allerdings ohne sich zu berühren. Wie viele Ehepaare, die daran gewöhnt waren, die Arme mit Babys, Buggys, Einkäufen und Kleinkindern voll zu haben, hatten sie das Händchenhalten verlernt.
In der Nacht hatte es erneut ein Gewitter gegeben, das rotbraunen Schlamm die mit Gras bewachsenen Böschungen heruntergespült und Pfützen in den verzogenen, geborstenen Pflastersteinen hinterlassen hatte. Jack trat in eine Pfütze, die viel tiefer war, als sie aussah. Wasser schwappte über den oberen Rand seiner Turnschuhe, und es sah aus, als würde es ihm geradewegs bis hoch in die Augen steigen, als er wegen seiner nassen, kalten Socken lauthals zu weinen anfing.
»Jetzt komm schon, Jack«, sagte Marcus in seinem strengen Vaterton. »Es ist doch nur ein bisschen Wasser.«
»Setz dich auf die Mauer«, beruhigte Lara ihren Sohn. »Ich kümmere mich darum.«
»Du verziehst das Kind«, tadelte Marcus mit hoher Stimme. »Und später bekommst du die Rechnung dafür.«
Lara wusste, dass er nur Spaß machte, indem er ihre Mutter nachahmte – sie und Marcus hatten zu den seltenen Gelegenheiten, an denen sie sich begegnet waren, aufeinander einen gleichermaßen unvorteilhaften Eindruck gemacht. Doch hinter dem Scherz verbarg sich das, was er wirklich dachte. Sie zog Jack die triefenden Socken von den Füßen und wrang sie aus. »Geh einfach barfuß.« Sie zwinkerte ihm zu. »Dann kannst du nach Herzenslust planschen.«
»Da ist die Katastrophe vorprogrammiert«, fuhr Marcus in derselben Fistelstimme fort. Lara wünschte, er würde den Mund halten.
Bei der Bücherei angelangt, erklommen sie die steilen Steinstufen, die die Böschung hinauf zu dem bildhübschen Gebäude führten. Exakt symmetrisch mit seinen vier Säulen, die das Vordach über der Veranda stützten, stand es vor dem Hintergrund einer Gruppe hoher grüner Bäume und leuchtete in der Morgensonne.
Den Eindruck der schönen Fassade störte lediglich ein auf dem Gehweg stehender Plakataufsteller, auf den jemand ein laminiertes, mit Cliparts verziertes Poster geheftet hatte. Das Poster informierte Passanten darüber, dass FÜCHSCHEN POPÜCHSCHEN und HÜHNCHEN POPÜNCHEN heute Vormittag um 10.00 Uhr auftreten würden und ALLE HERZLICH WILLKOMMEN !!!!!! seien.
»Ach du Scheiße«, murmelte Marcus.
»Niemand hat dich gezwungen mitzukommen«, gab Lara zurück. »So, Jacko, bringen wir dich in Ordnung.« Sie sorgte dafür, dass er sich die Füße auf der Borstenmatte abtrat, die auf der Veranda vor dem Eingang lag, und stellte seine Schuhe und Socken zum Trocknen in die Sonne.
Drinnen wurden sie von einer adretten Frau begrüßt, die vor einer Reihe hölzerner Archivboxen saß. Ein Ständer mit Stempeln stand gebrauchsbereit vor ihr.
»Hallo«, grüßte sie, stand auf und streckte ihnen die rechte Hand hin. »Ich wette, Sie sind Marcus und Lara Wayland. Und wer ist das?« Sie beugte sich vor und strahlte Jack an, der daumenlutschend zu ihr emporstarrte.
»Das ist Jack. Sag hallo, Jack«, bat Lara ihn.
»Hallo«, sagte Jack und verkroch sich hinter seiner Mutter.
»Ich bin Tina«, stellte die Frau sich vor und gab ihnen die Hand. »Die Bibliothekarin von Trout Island. Und fragen Sie mich nicht, woher ich weiß, wer Sie sind. Ich weiß über alles und jeden hier Bescheid.« Sie lachte, wobei ihr Kopf eine merkwürdige Wackelbewegung machte. Obwohl sie nicht älter sein konnte als fünfzig, trug sie ein voluminöses
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