Hautnah
Bastelarbeiten bedeckten sämtliche horizontalen Flächen: Dinosaurier aus Pappmaché, Galeonen aus Legosteinen und ein Elektro-Bausatz, der aussah wie eine Bombe. Das Haus schien komplett von den Kindern in Beschlag genommen worden zu sein. Lara beobachtete Gina dabei, wie sie Kaffee trank, während Bert sich, zu einem Komma zusammengerollt, an ihre Seite schmiegte, und fand, dass ihr apartes, hübsches Gesicht sehr verbraucht aussah.
»Warum unterrichtest du deine Kinder zu Hause?«, fragte sie. Sie hielt ihren Becher mit beiden Händen. Gina machte ausgezeichneten Kaffee.
»Die Schule hier im Ort ist das Letzte. Jeden Morgen müssen die Kinder ihre Treue auf die amerikanische Flagge schwören, und außerdem bringt man ihnen dort die völlig falschen Inhalte in der völlig falschen Reihenfolge bei. Nie ist Zeit für irgendwas Kreatives.«
»Aber bei dir schon, so wie es aussieht.«
»O ja. Ich bin gelernte Buchbinderin, deswegen habe ich wohl eine künstlerische Ader.«
»Ich schicke meine Tochter mal zu dir rüber. Sie hat vor, auf die Kunstschule zu gehen.«
»Hast du noch mehr Kinder?«
Gina war neugierig zu erfahren, wie britische Teenager aus der Großstadt mit dem beschaulichen Leben in Trout Island zurechtkamen. Lara erwähnte Sean, und Gina meinte, dass er ein ausgesprochen netter Junge sei, womit sie Laras Eindruck bestätigte. Als sie ihr allerdings von Ollys Freunden erzählte – deren Namen, wie sie aus einer einsilbigen Unterhaltung mit ihrem Sohn erfahren hatte, Aaron, Brandon und Kyle lauteten –, schüttelte Gina skeptisch den Kopf.
»Ist das ein Problem?«, fragte Lara.
»Na ja, meine Freunde wären sie jedenfalls nicht, wenn ich sechzehn wäre!«, sagte Gina.
»Ich höre …«
»Hier draußen auf dem Land gibt es immer eine Handvoll solcher Kids. Das war früher, als ich noch zur Schule ging, genauso. Sie kommen aus kinderreichen, armen Familien – chaotisch, ein bisschen schmutzig. Die Mutter ist auf sich allein gestellt, oder jedenfalls so gut wie, und hat so viel damit zu tun, Geld für den Lebensunterhalt zusammenzukratzen, dass sie sich nicht groß um ihren Nachwuchs kümmern kann. Diese Kids haben von Anfang an keine Chance. Sie schmeißen früh die Schule, und danach hängen sie einfach nur den ganzen Tag rum, dröhnen sich zu und sorgen für Ärger.«
»Und diese Jungs gehören auch zu der Sorte?«
Gina nickte.
Lara beschloss, bei nächster Gelegenheit ein paar Worte mit Olly zu reden, um sicherzugehen, dass er keinem schlechten Einfluss unterlag. Gleichzeitig hegte sie den Verdacht, dass derselbe Charakterzug an Gina, der sie dazu veranlasst hatte, ihre Kinder nicht auf die öffentliche Schule zu schicken, sie auch zu solchen Urteilen verleitet haben könnte. Im Grunde lief es doch darauf hinaus, dass diese Jungen aus armen Verhältnissen stammten. Es würde Olly guttun, auch mit solchen Kindern in Kontakt zu kommen, damit er eine andere Facette der amerikanischen Kultur kennenlernte und begriff, wie gut er es hatte.
Solange er vernünftig blieb.
Sie überlegte, ob sie, wenn er das nächste Mal mit ihnen loszog, einen Spaziergang durch den Ort machen sollte. Auf diese Weise ließe sich vielleicht herausfinden, was genau er mit seinen neuen Freunden trieb.
»Und wie lebt es sich so in dem Haus?«, fragte Gina und schnitt dieselbe Grimasse wie zuvor Bibliothekarin Tina. Dann stand sie auf und nahm ein paar Teller von einem Regal. »Einen Keks? Glad und Ethel haben sie heute Morgen gebacken.«
»Also gut, wenn es sein muss. Ich werde hier noch richtig dick«, sagte Lara und biss in einen Keks. Er war köstlich – mürbe und Ahorn-süß mit einem Hauch walnussiger Erdigkeit.
»Ich wäre froh, wenn ich mal ein paar Pfund zunehmen könnte.« Gina klopfte sich mit der Faust gegen die knochige Hüfte. »Ich esse den ganzen Tag lang wie ein Schwein und werde trotzdem immer dünner.«
»Du Glückliche«, sagte Lara kauend. »Ach so, was ich noch fragen wollte: Warum hast du eigentlich so ein komisches Gesicht gemacht, als du unser Haus erwähnt hast?«
»Gesicht?«
Lara ahmte die Grimasse nach. »Und gerade eben war es, als würde es dir kalt den Rücken runterlaufen.«
»Oh! Oh, tut mir leid. Es ist nur, weißt du, bei der Geschichte und so weiter.«
»Geschichte?«
»Ach du liebe Zeit. Du weißt es gar nicht, oder?«
»Ich weiß was nicht?«
Gina schlug sich mit der Handfläche gegen die Stirn. »Vergiss es. Vergiss, dass ich überhaupt was gesagt habe. Ich bin
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