Hautnah
am Ende war ein Rekrutierungsstand der Army aufgebaut; auch er fand keinen Zuspruch; der Soldat, der ihn betreute, saß einsam und verloren da und blätterte in der New York Post . Außer Gina, den Kindern und zwei Verkäuferinnen war er der einzige Mensch, den sie bisher gesehen hatte.
Wieder einmal staunte sie über den himmelweiten Unterschied zwischen dem Hochglanz-Amerika aus den Medien und der schäbigen Wirklichkeit. Was für eine bewundernswerte Leistung, sich als Land gegenüber dem Rest der Welt so überzeugend zu vermarkten.
Sie bog in einen Seitengang ein und blieb stehen, um sich in einem Schaufenster eine Auslage von Tarotkarten anzuschauen. Als sie sich vorbeugte, um die amateurhaft gestalteten Bilder näher zu betrachten, nahm sie im Spiegelbild in der Scheibe eine Bewegung wahr und fuhr mit klopfendem Herzen herum. Sie sah gerade noch den Absatz eines Schuhs, der um eine Ecke herum in den Hauptgang der Mall verschwand. Mitsamt dem Buggy rannte sie zum Ende des Gangs, um zu sehen, wer es war. Etwa hundert Meter weiter vorn, in der Nähe des Army-Standes, eilte eine Frau in Beige durch die automatischen Schiebetüren auf den Parkplatz hinaus.
»Stehen bleiben!«, rief Lara, aber sie war zu weit weg. Nicht einmal der Soldat blickte auf.
»Hey!« Gina tippte Lara auf die Schulter, woraufhin diese erneut zusammenzuckte. »Ups, tut mir leid. Aber wir haben Glück gehabt, schau her.« Sie zeigte auf die Mädchen, die mit zufriedenen Gesichtern je eine gelbe Plastiktüte schwenkten.
Danach ging es weiter in den eigentlichen Ort – die »Innenstadt«, wie Gina es nannte. Sie fuhr die schmale, von Geschäften gesäumte Main Street entlang, und Lara folgte ihr. Irgendwann parkten sie, stiegen aus den kühlen Autos auf den glühend heißen Gehweg und setzten die Jungs in ihre Buggys.
»Alles klar bei dir?« Gina kam zu Lara und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Du wirkst ein bisschen angespannt.«
»Mir geht’s gut, danke. Ich habe mich nur noch nicht an die Hitze gewöhnt.«
»Ich weiß. Ist es nicht ekelhaft?« Gina schnitt eine Grimasse. »Also«, sagte sie und blickte die Straße hinauf und hinunter. »Was zum Anziehen für deine zwei Großen.«
»Und Joggingsachen für mich«, fügte Lara hinzu.
»Jogging. Du spinnst ja«, erwiderte Gina. »Hey, Mädels, sollen wir mit ihnen zu Fashion Bug gehen?«
»Jippie!«, riefen Gladys und Ethel. »Fashion Bug!«
Was die Schrift auf dem Ladenschild bereits erahnen ließ, bestätigte sich spätestens beim Anblick des Warensortiments aus pastellfarbenen Kunstfaser-Scheußlichkeiten: Bei Fashion Bug würde Lara nichts für ihre Kinder finden. Mit Schaudern befingerte sie eine glänzende Polyesterbluse.
»Ist es nicht toll hier?«, fragte Gina, die sich einen hellrosafarbenen Stufenrock vor den Körper hielt und damit wie ein Laufstegmodel posierte.
»Also …«, sagte Lara, woraufhin die zwei Mädchen einen Lachanfall bekamen.
»Ich will dich doch nur auf den Arm nehmen.« Gina gab ihr mit dem Handrücken einen leichten Klaps auf den Arm. »Fashion Bug geht gar nicht .«
»Wo kauft ihr denn eure Sachen ein?«, wollte Lara wissen. Gina trug weite, schlichte Baumwollkleider, die Mädchen kecke Shorts und ärmellose Tops.
»Na ja«, sagte Gina. »Normalerweise warten wir, bis wir in New York sind. Oder wir bestellen im Internet. Hier gibt es außer für Leute mit Geschmacksverirrungen eigentlich nichts zu kaufen. Aber in einer Seitenstraße der Main Street hat ein neuer Laden aufgemacht, den wollte ich mir mal ansehen. Einer der Männer hat mir gestern Abend davon erzählt.«
Gina ging mit ihnen um eine Ecke, und zu Laras immenser Erleichterung führte das neue Geschäft Surfer- und Skaterkleidung aus Stoffen, vor deren Berührung ihr nicht ekelte. Sie kaufte mehrere Teile für Bella und Olly sowie ein neues Kleid für sich selbst. Auf dem Rückweg zu den Autos machte Gina mit ihr noch einen Abstecher zu einem teuren Sportausstatter, wo sie Ersatz für ihre gestohlenen Joggingsachen beschaffte.
»Einen Laden, wo man ein paar anständige, schicke Herrenhemden bekommen könnte, gibt es hier wohl nicht zufällig, was?«, erkundigte sie sich bei Gina.
»Ist die Frage ernstgemeint?«
Sie gaben den Chevy bei der Avis-Filiale am Stadtrand zurück. Lara nahm im Stillen Abschied von all dem Luxus, bevor sie sich zu sechst in Ginas Kombi quetschten.
»Wir sind am richtigen Ende der Stadt, um über Pretty Fly Pie nach Hause zu fahren …«, sagte
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